EIN NARR
Von Guy de Maupassant, übersetzt von Curt Heymann. Mit 3 Zeichnungen von Max Schenke.
R war tot, das Haupt eines hohen
Gerichtshofes, ein redlicher
Richter, dessen tadelloses Leben
bei allen Gerichtshöfen Frank-
reichs zum Muster diente. Ad-
vokaten, junge Gerichtsherren
und Richter grüßten und ver-
neigten sich tief zum Zeichen ihrer großen Ver-
ehrung vor seinem bleichen mageren Gesicht,
mit den glänzenden, tiefen Augen.
Sein Leben hatte er damit zugehracht, das
Verbrechen zu verfolgen und Schwache zu
schützen. Gauner und Mörder hatten nie einen
furchtbareren Feind gehabt, denn in dem tiefsten
Grunde ihrer Seele schien er ihre geheimsten
Gedanken zu erraten und mit einem Blick die
Mysterien ihres Denkens zu entwirren.
Mit 82 Jahren war er also tot, von Unter-
würfigkeit umgeben und von der Trauer eines
ganzen Volkes geleitet. Soldaten mitroten Hosen
hatten ihm das Trauergeleite gegeben, und
Herren mit weißer Binde hatten an seiner Gruft
untröstliche Worte verschwendet und Tränen,
die echt schienen.
Und nun folgt das eigenartige Dokument, das
der erstaunte Notar im Schreibtisch des Ver-
storbenen fand, wo er gewöhnlich die Akten-
stöße der großen Verbrechen verschloß.
Es trug den Titel:
Wesh alb?
20. Juni 1851.
Ich komme aus der Sitzung. Ich habe Blondel
zum Tode verurteilen lassen. Warum hat der
Mann auch seine fünf Kinder ermordet? War-
um? Man begegnet ja oft Leuten, denen es
eine Wollust ist, zu töten. Ja, ja, es muß eine
Wollust sein, vielleicht die größte von allen;
denn gleicht nicht Töten am meisten dem Er-
zeugen? Schaffen und Zerstören! Zwei Worte,
die die Geschichte des Alls einschließen, die
große Geschichte der Welten, alles was ist, —
alles! Weshalb ist es so berauschend, zu töten ?
25. Juni.
Daran denken, daß es ein Wesen gibt, das
lebt, das geht, das läuft . . . ein Wesen? Was
ist eigentlich ein Wesen? Die lebendige Seele,
die das Prinzip der Bewegung in sich trägt und
einen Willen, der diese Bewegung lenkt. Mit
nichts hält es sie auf, ihre Füße stehen mit dem
Boden nicht in Berührung, ein Lebenskörnchen,
das auf der Erde kriecht und dies Lebenskorn,
von dem man nicht weiß, woher es kam, —
das kann man zerstören wie man will. Also
nichts, — mehr als nichts. Wenn es verfault,
ist es zu Ende.
26. Juni.
Weshalb ist es eigentlich ein Verbrechen, zu
töten? Ja, weshalb? Es ist doch grade das
Gesetz der Natur. Jedem Wesen ist die Be-
stimmung, zu töten. Es tötet, um zu leben, und
es tötet, um zu töten.
Töten ist unser Temperament; man muß
töten! Das Tier tötet immer, täglich, sein ganzes
Leben lang — unaufhörlich tötet der Mensch,
um sich zu nähren, und da er töten muß, aus
Wollust töten muß, erfand er die Jagd! Das
Kind tötet Insekten, die es findet: kleine Vögel,
alle kleinen Tiere, die ihm in die Hand kommen.
Aber damit ist dem unwiderstehlichen Ver-
nichtungsdrang in uns noch nicht Genüge getan,
es genügt nicht, Tiere zu töten; wir müssen
auch Menschen töten. Mit Menschenopfern
befriedigte man einst diesen Drang. Heute hat
der Zwang der Lebensgemeinschaft aus dem
Morde ein Verbrechen gemacht. Man ver-
urteilt und bestraft den Mörder! Aber weil
wir nicht leben können, ohne uns diesem na-
türlichen Instinkt preiszugeben, der gebieterisch
den Tod fordert, helfen wir uns von Zeit zu
Zeit durch Kriege, wo ein ganzes Volk ein
anderes erwürgt. Das ist dann ein Blutgelage,
eine Schwelgerei, an der sich die Heere be-
täuben, an der sich Bürger, Frauen und Kinder
berauschen, wenn sie des Abends beim Lam-
penschein von dem Gemetzel lesen, das der
Bericht entstellt.
*
Und man sollte glauben, daß man die Helden
dieses Menschenschlachtens verachtet! — Nein!
Man tut ihnen alle Ehren an, man kleidet sie
in Gold und glänzende Tücher; sie tragen Fe-
dern auf dem Haupte, Orden auf der Brust;
man gibt ihnen Kreuze, Belohnungen, Titel
aller Art. Sie sind stolz, geachtet, von Frauen
geliebt, von der Menge bejubelt, nur weil sie
die Aufgabe erfüllt haben: Menschenblut zu
vergießen. Durch die Straße schleifen sie ihre
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Von Guy de Maupassant, übersetzt von Curt Heymann. Mit 3 Zeichnungen von Max Schenke.
R war tot, das Haupt eines hohen
Gerichtshofes, ein redlicher
Richter, dessen tadelloses Leben
bei allen Gerichtshöfen Frank-
reichs zum Muster diente. Ad-
vokaten, junge Gerichtsherren
und Richter grüßten und ver-
neigten sich tief zum Zeichen ihrer großen Ver-
ehrung vor seinem bleichen mageren Gesicht,
mit den glänzenden, tiefen Augen.
Sein Leben hatte er damit zugehracht, das
Verbrechen zu verfolgen und Schwache zu
schützen. Gauner und Mörder hatten nie einen
furchtbareren Feind gehabt, denn in dem tiefsten
Grunde ihrer Seele schien er ihre geheimsten
Gedanken zu erraten und mit einem Blick die
Mysterien ihres Denkens zu entwirren.
Mit 82 Jahren war er also tot, von Unter-
würfigkeit umgeben und von der Trauer eines
ganzen Volkes geleitet. Soldaten mitroten Hosen
hatten ihm das Trauergeleite gegeben, und
Herren mit weißer Binde hatten an seiner Gruft
untröstliche Worte verschwendet und Tränen,
die echt schienen.
Und nun folgt das eigenartige Dokument, das
der erstaunte Notar im Schreibtisch des Ver-
storbenen fand, wo er gewöhnlich die Akten-
stöße der großen Verbrechen verschloß.
Es trug den Titel:
Wesh alb?
20. Juni 1851.
Ich komme aus der Sitzung. Ich habe Blondel
zum Tode verurteilen lassen. Warum hat der
Mann auch seine fünf Kinder ermordet? War-
um? Man begegnet ja oft Leuten, denen es
eine Wollust ist, zu töten. Ja, ja, es muß eine
Wollust sein, vielleicht die größte von allen;
denn gleicht nicht Töten am meisten dem Er-
zeugen? Schaffen und Zerstören! Zwei Worte,
die die Geschichte des Alls einschließen, die
große Geschichte der Welten, alles was ist, —
alles! Weshalb ist es so berauschend, zu töten ?
25. Juni.
Daran denken, daß es ein Wesen gibt, das
lebt, das geht, das läuft . . . ein Wesen? Was
ist eigentlich ein Wesen? Die lebendige Seele,
die das Prinzip der Bewegung in sich trägt und
einen Willen, der diese Bewegung lenkt. Mit
nichts hält es sie auf, ihre Füße stehen mit dem
Boden nicht in Berührung, ein Lebenskörnchen,
das auf der Erde kriecht und dies Lebenskorn,
von dem man nicht weiß, woher es kam, —
das kann man zerstören wie man will. Also
nichts, — mehr als nichts. Wenn es verfault,
ist es zu Ende.
26. Juni.
Weshalb ist es eigentlich ein Verbrechen, zu
töten? Ja, weshalb? Es ist doch grade das
Gesetz der Natur. Jedem Wesen ist die Be-
stimmung, zu töten. Es tötet, um zu leben, und
es tötet, um zu töten.
Töten ist unser Temperament; man muß
töten! Das Tier tötet immer, täglich, sein ganzes
Leben lang — unaufhörlich tötet der Mensch,
um sich zu nähren, und da er töten muß, aus
Wollust töten muß, erfand er die Jagd! Das
Kind tötet Insekten, die es findet: kleine Vögel,
alle kleinen Tiere, die ihm in die Hand kommen.
Aber damit ist dem unwiderstehlichen Ver-
nichtungsdrang in uns noch nicht Genüge getan,
es genügt nicht, Tiere zu töten; wir müssen
auch Menschen töten. Mit Menschenopfern
befriedigte man einst diesen Drang. Heute hat
der Zwang der Lebensgemeinschaft aus dem
Morde ein Verbrechen gemacht. Man ver-
urteilt und bestraft den Mörder! Aber weil
wir nicht leben können, ohne uns diesem na-
türlichen Instinkt preiszugeben, der gebieterisch
den Tod fordert, helfen wir uns von Zeit zu
Zeit durch Kriege, wo ein ganzes Volk ein
anderes erwürgt. Das ist dann ein Blutgelage,
eine Schwelgerei, an der sich die Heere be-
täuben, an der sich Bürger, Frauen und Kinder
berauschen, wenn sie des Abends beim Lam-
penschein von dem Gemetzel lesen, das der
Bericht entstellt.
*
Und man sollte glauben, daß man die Helden
dieses Menschenschlachtens verachtet! — Nein!
Man tut ihnen alle Ehren an, man kleidet sie
in Gold und glänzende Tücher; sie tragen Fe-
dern auf dem Haupte, Orden auf der Brust;
man gibt ihnen Kreuze, Belohnungen, Titel
aller Art. Sie sind stolz, geachtet, von Frauen
geliebt, von der Menge bejubelt, nur weil sie
die Aufgabe erfüllt haben: Menschenblut zu
vergießen. Durch die Straße schleifen sie ihre
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