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Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 1.1919

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Achtzehntes Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.29026#0443
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Friedhöfen aus und hielt sich an die Plätze des
Lebens. Er schritt die steinigen Kreuzwege
bergiger Tage zurück, er zuckte zusammen,
schrie auf unter den tiefbohrenden spitzhakigen
Hieben der Stunden.
So vergingen Jahre. Sein Vater blieb ihm fern.
Eines Tages stiel? er die Angst aus sich, lief
aus der Stadt hinaus, dem alten Friedhof zu,
überkletterte seine moosige Mauer. Er rannte
die vergessenen Gänge zwischen Steinzeichen
und abgebrochenen Kreuzen entlang, er war
erfüllt von Erwartung, er stand ratlos vor den
zersprungenen Tafeln, seine fiebrigen Augen
kratzten die verschwommenen Schriftzeichen
heraus, suchten sie zu seinem Namen zusam-
menzusetzen. Er stand und lauschte, war atem-
lose Erwartung. Aber kein Ereignis, kein Laut
kam auf ihn zu.
Da erkannte er, dal? sein Tun nutzlos war.
Zugleich ahnte er, dal? er seinem Vater niemals
begegnen werde, dal? er vielleicht überhaupt
nicht für ihn zurückgeboren wurde, dal? er für
ihn immer begraben lag.
Er floh den Friedhof, floh die Stadt, die vor
ihm lag, nahm andere Städte in seine Arme,
grol?e und kleine, kletterte über sie hinweg mit
scharrenden Fül?en, er drückte Länder und
Meere in sich, er dachte sich um in fremde
Völker und Rassen, er schwomm durch ihre
blutgefüllten Adern, lebte durch ihre Köpfe.
In diesen Zeiten merkte er, dal? der Schatten,
der sich über seinen Herzarm gelegt und ihm
die Hand genommen hatte, verschwand, dal?
kräftige Finger aus ihm hervorgrünten. Und
in diesen Zeiten verjüngte er sich auch von Tag
zu Tag, nur seine Augen blieben alt.
Die Klarheit der Tage fiel? sich nicht halten,
es drangen schwere
Zweifel in ihn. Oft sah
er, der allein als ein-
ziger Zurücklebender
über dieErde ging, alles
um sich, alle Menschen
zurückleben. Die
Menschen suchten mit
den Fersen auf zurück-
gelegten Wegen Ziele,
die sie, vorwärtsge-
wandt, schon längst
erreicht und ’ über-

schritten hatten. Stolze Werke zerflossen,
wurden wieder Wfirt, zuckten in hoffende
Seelen zurück, machten sie klein. Die Flüsse
zogen zurück, wurden wieder verborgene
Quellen. Er sah bittende, hilfesuchende Besitz-
lose vor Besitzenden stehen mit ausgestreckter
Hand, er sah das gebotene Geld wieder in die
Tasche des Gehers zurückfahren, er sah die
Bittenden die Treppen hinabgehen, mit dem
Gesicht nach oben gewandt, den Arm, das Ge-
länder hinaufgelehnt, er sah ihre Herzen vor
Erfüllung und Verneinung knien. Er sah Er-
wachsene zu kleinen Kindern werden, sah sie
zurückkehren in den Leib ihrer Mütter, den
sie haßten, sah ihre Eltern auf dem Lager der
Lust, doch schon umflort von trüben Erwar-
tungen. Er sah Paläste und Häuser, ganze
Städte zerfallen in Stein- und Trümmerhaufen,
er blickte über die Erde als eine trostlose
Steppe hin.
Er glaubte fest, daß alle Menschen zurück-
leben. Weil sie zurückleben, sind sie so voll
klagender Angst vor ihrer Zukunft, die ihre
Vergangenheit ist, sind oft so wissend, sehen
sie die Vergangenheit viel heller vor sich als
ob sie wirklich ihre Zukunft wäre.
In solchen Stunden fragte er auch, wann er
würde geboren werden. Seine Mutter lebte
schon, aber sie kannte ihn noch immer nicht
und doch sah er sie knechtend über sich ge-
beugt. Er glaubte, daß er seiner Gehurt immer
näher entgegenlebte, aber es war ihm, daß diese
Geburt für ihn das gleiche bedeutete, was
anderen Tod hieß. War also der Tod, der
hinter ihm stand, seine Gehurt? War seine
Zukunft seine Vergangenheit?
Manchmal schien es ihm gewiß, daß er seine
Geburt niemals er-
reichen werde, daß er
in dem schwebenden
Stadium, mitten zwi-
schen Geburt und Tod,
zwischen Vergangen-
heit und Zukunft, die
nur vertauscht waren,
ewig werde weiter-
iehen müssen. Sollte er
auf seine Geburt ge-
duldig warten? Oder
sollte er sie suchen?


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