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D I E

LOKOMOTIVE

(Ein Traum)

Von Leopold Plaickinger. (Mit einer Zeichnung von E. Plaichinger-Coltelli.)

— — — — wir kommen vor den Bahnhof;
eine turmhohe, vierflügelige Glasdrehtüre
kreist in ständigem Rundlauf und saugt die
heraneilenden Menschen an. Die beiden Freunde
und ich bleiben stehen . . . ich lache den beiden
zu, deute auf die Drehtüre und sage betont;
„Die Liehe, sie saugt tausend Männer auf und
hat um tausend zu wenig“ . . .

Der Bahnhofplatz ist dunkel, nur die Schein-
werferhiebe der Drehtüre werfen ruckweise
Licht über tausende bleiche Gesichter . . .

Die beiden Freunde und ich steigen eine
breite, weiße Treppe empor. Höher, höher —
sie scheint endlos . . .

Wir treten vor einen kleinen, gedeckten
Tisch ... Er ist wie ein Altar am Ende der
Stiege aufgerichtet. Zu dritt setzen wir uns
an eine Seite des Tisches, die übrigen Seiten
bleiben frei. Jeder hat eine Silherschüssel vor
sich, gefüllt mit einer braunen Tunke. Aus den
Schüsseln der beiden Freunde ragen, durch tiefe
Schnittkerben zerstückelt und dennoch aufge-
richtet, je zwei Schlangen empor, mit aufge-
sperrtem Rachen sich gegenseitig anzüngelnd.

In meiner Schüssel liegen kleine, schwarz
und silbrig geschuppte Fischlein. Sie sind ohne
Kopf, und dennoch glaube ich, sie leben . . .

Ich stehe im Wartesaal dritter Klasse. Um
einen Tisch herum sitzen pfeifenrauchende Ar-
beiter. Eine Kellnerin bei ihnen. Sie kniet auf
einem Stuhl, hat die Arme auf der Tischplatte
aufgestützt, und ich sehe ihr geilgrinsendes Ge-
sicht, obwohl sie mir den Rücken zukehrt. Sie
hat kleine, schöngeformte Lackschühchen an,
ihre rockentblößten Beine baumeln auf und
nieder. Die schimmernden Glanzlichter der
straffgezogenen Seidenstrümpfe reizen meine
Gier. Mit gekrümmten Fingern, die Hände vor-
gestreckt, gehe ich an den Tisch heran. Ich
mul? die prachtvollen Wölbelinien dieser
Waden fassen! . . .

Meine Hände umspannen ein Bein, da schreit
das Weib auf: „Lai? mich, du dreckiger
Schuft!“

„Halt's Maul, du schönes Mensch!“ sage ich
mit dem Tonfall, als sagte ich „Guten Tag ,

schäme mich des Schimpfwortes und verberge
meine Scham in ihren Kniekehlen. Mein Ge-
sicht ist in diesem Augenblick so klein wie eine
Nul? und ruht in der weichen, runden Knie-
kehle. Ihre Haut glänzt wie die Schattenseite
einer Perle . . .

Ich haste auf den Bahnsteig hinaus, ich weil?,
ich werde den Zug versäumen. Ich mul? die
Geleise überqueren.

Mit lahmschweren Beinen steige ich einen
Hügel empor, auf einem gelben Feldweg, an
dem entlang Drähte gespannt sind. Ich sage zu
mir selbst: „Merkwürdig, dal? die Liehe zu
Schienenwechsel und Schranken Drähte zieht,
sie mül?te Schienen und Wechsel funkentele-
graphisch einstellen.“

Ich stehe auf der Hügelhöhe, blicke in eine
Schlucht hinunter, wo der Bahnhof liegt und
fahrtbereit der Schnellzug steht.

In weiten Sprüngen haste ich hügelab. Atem-
los stehe ich am Bahnsteig und schaue dem eben
fortfahrenden Zuge nach. Einen Kreiswirbel
von Staub und Papierfetzen zieht der Zug nach
sich. Aus dem letzten Fenster schwingt ein
Frauenarm ein weißes Taschentuch.

In blinder Wut laufe ich dem Zuge nach.
Ich laufe, laufe, meine Wut peitscht mich da-
hin. Ich hin weit hinter dem Zuge und sehe
dennoch die Lokomotive neben mir ... Sie ist
so schön! So gedrungen und dennoch so schlank!
Spitz und schneidend wirft sich ihre Brust in
den Wind. Wie Frauenhaar flattert es vom
kurzen Schlot . . .

Ich weiß, daß ich diese Lokomotive liebe . ..

Ein langes, wie ein Schmalboot gebautes
Automobil steht auf der Landstraße. Ohne die
Schlagtüre zu öffnen, springe ich vom Stand in
den Führersitz, krümme die linke Hand um das
Steuer, die rechte reißt den Geschwindigkeits-
hebel an. Zu beiden Seiten der Motorhaube
schlagen und spritzen die Explosionsflammen
heraus. Brüllend fegt der Wagen über die
Straße. Mit gekrümmtem Rücken und Nacken
presse ich das Steuer an die Brust . . .

Dröhnend, wie ein körpergewordenes Don-
nerrollen stürmt der Schnellzug dahin. Bäume,

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