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,JDu gehst nun morgen fort,“ erwiderte
Merris, „mit deinem Gatten, und wer kann
sagen, ob wir uns Wiedersehen. Da du so viel
von Glück sprachst in diesen letzten Tagen,
so sage mir nun, ehe du gehst, was das ist:
Glück ?“

„Glück,“ sagte die Schöne, „ist der Wünsche
Erfüllung. Ich wünschte mir Reichtum und
Ehre; die gibt mir mein fürstlicher Gemahl.
Doch nun laß mich schlafen.“

Wenn dies das Glück ist, dachte Merris,
dann kann ich freilich ruhig schlafen, denn es
lockt mich nicht. — Und sie legte sich nieder
und schlief bald ein. Ihr Herz war noch
kühl und fest verschlossen, ohne Sehnsucht
und Wunsch.

^^ieder verging einige Zeit.

gab ihn dem Obersten der Gesandten und sprach
zu ihm: „Bringe diesen Reif deinem Herrn und
sage ihm: Mit dieser Gabe schenkt die Prin-
zessin sich seihst.“

Und wieder ward ein Fest gerüstet in der
Hauptstadt des Landes. Nach drei Monden
aber kam der weise König, um seine Gattin
heimzuführen, und sie feierten die Vermählung
viele Tage lang.

In der letzten Nacht schlief auch die zweite
Prinzessin noch einmal im Gemach ihrer jungen
Schwester Merris. Und sie sprach zu ihr:
„Höre, Merris, was sich heute begab! Als mein
königlicher Gatte zu mir kam, sagte er mir: Ich
bin betrübt, denn ich habe deinen Ring ver-
loren, obwohl ich ihn hütete als mein liebstes
Gut. — Ich aber sprach zu ihm: Sei nicht be-
trübt mein Bruder, denn dies
ist das Zeichen unseres
Glückes.“

Darauf küßten sich die
Schwestern, und die Ältere
schlief alsbald ein. Merris
aber saß sinnend auf ihrem
Lager und weckte sie nach
einer Weile wieder und
fragte: „Sage du mir doch
ehe du fortgehst, was das
ist: Glück?“

„Glück ist Macht und
^Wissen“, sagte die Prinzessin.
„Und beides gibt mir mein
Gemahl. — Doch nun laß
mich schlafen.“

Merris aber faltete ihre
Hände über der Brust und
legte sich zum Schlaf zu-
recht. — Wenn dies das
Glück ist, dachte sie, dann
will ich freilich ruhig schla-
fen, denn es lockt mich nicht.
Und bald schlief sie fest und
ruhig. Ihr Herz war noch
still wie ein tiefes Wasser
vor Tau und Tag, ehe der
Morgenwind erwacht.

Merris blieb nun allein
zurück im Hause ihres Va-
ters. Sie schlief allein in dem
weißen Gemach mit den Säu-
len aus rotem Granit. Sie

Es regierte aber damals in
einem anderen Lande ein Kö-
nig, dessen Weisheit so groß
war, daß ihr Ruf über alle
Länder ging. Der schickte
Boten an den Pharao; sie
brachten Silber, Gold und
edle Steine und sprachen zu
dem Herrscher: „Diese Bot-
schaft schickt dir unser Fürst;
sende mir deine zweite Toch-
ter, die sie die Klügste nennen,
daß sie an meiner Seite sitze
und Königin sei!“ — Und der
Pharao schickte die Boten zu
seiner Tochter. Sie reichten
der Prinzessin köstliches Ge-
schmeide in goldenen Schalen
und Tontafeln mit Keilschrift
bedeckt, von den Gelehrten
ihres Landes geschrieben. Sie
lasen ihr die Schriften vor;
es stand viel darauf vom
Lauf der Gestirne und von
geheimer Wissenschaft, die
wie ein tiefer Brunnen ist, den
nie ein Mensch ausschöpfen
kann. Lange Zeit lauschte die
Prinzessin den Boten, und als
sie geendet hatten, mußten sie
ihr von der Macht und Größe
und Klugheit ihres Herrn be-
richten. — Dann aber nahm
sie den Ring von ihrer Hand,

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