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WAHRHAFTIGE VISION

Eine Geschichte in einem Satz

Aus „Amüsements ä la Grecque ou les loisiers de la halle" von einem unbekannten Autor, Paris 1764, übertragen von

Alf von Czihulka

UND am ersten Jänner, gleich am frühen
Morgen, glaubte ich erwacht zu sein, und
ich war es auch, und ich dachte manches, das ich
nicht mehr weil?, und um das ich mich auch einen
Teufel schere, da hörte ich die Türe gehen und
sah auch gleich einen
unbekannten Mann
eintreten, der einen
verwirrten Eindruck
machte und ein blei-
ches Totengesicht
schnitt, staubige Schu-
he hatte und mich beim
Namen rief und mich
aufzustehen zwang,
und da kroch ich zit-
ternd in meinen Mor-
genrock, und da ich
gar nicht wul?te, was
der Fremde wolle, trat
ich langsam näher, und
da warf er mich auf
einen Stuhl, packte
mich auch gleich am
Halse, tat mir einen großen Kragen um, be-
deckte mein Gesicht mit seinen Händen, daß
mir war, als müsse ich das Meer ausschwitzen,
und ich war so naß, daß die Tropfen auf
den Boden sprangen und mir der Atem stockte,
und ich schäumte wie ein wildes Roß und
nicht einen Ton mehr sagen konnte, und dann
sah ich noch, wie der fremde Mann eine Waffe
schwang, daß die scharfe Klinge wie ein Feuer
blitzte und, und dann zückt' er sie nach meiner

Gurgel, und da dacht’ ich gleich, jetzt bin ich
tot; und um mich noch mehr zu quälen, goß er
mir Essig ins Gesicht, und dann riß er meine
Haare, und dann band er mich, und ich sah ihn
wieder eine Waffe zücken, mit der er mir,
o Wunder, nicht ans
Leben wollte und mir
nur die Ohren stutzte,
und dann fuchtelte er
mit einer dritten um
mein Hirn herum, und
als er aber sah, daß
ich noch immer lebte,
gab er mir Staub zu
fressen, und um die
Schandtat zu vollen-
den, nahm er noch die
letzte W affe, eine
große Schere, und mit
dieser schnitt er alles
weg, was ich am Kör-
per hatte, 'und dann
griff er meine Börse,
die im Schreine lag,
und er leerte sie, und dann riß er noch an meinen
Haaren, und bei diesem letzten Streich kriegte
ich Courage, und ich nahm ein großes Messer,
und ich sah den Fremden durch dieTüre fliehen,
und ich trocknete mein Angesicht, und ich blickte
in den Spiegel, und ich sah, daß mir der Bart
gestutzt und der Schopf gekräuselt war, und
da wußte ich, daß der böse Geist der neue
Gehilfe meines Haarkünstlers gewesen war,
und so gefiel mir die Vision.

DIE GROSSE SPINNE

Von Karl Hans Strobl

Im Mittelpunkt der Welt sitzt eine Spinne.
Blutrot das Kreuz, das sie am Rücken trägt.

Und rot vom Blut die scharfen Kieferzangen,

Die sie mit einem unersättlichen Verlangen
In ihre jäh erfaßten Opfer schlägt.

Indes sie späht, oh sie nicht neuen Fraß gewinne.

fhr Netz umspannt das All. Die Sternenräume
Sind seine Maschen, die Unendlichkeit
Hat es gewebt, und nur ein dünner Faden
Im Netz ist jenes weiße Band von Sternenpfaden,
Um Zukunft spannt sich s und Vergangenheit,

Um unser Leben, unsre V/ahrheit, unsre Träume.

In jedem Augenblick sind Millionen Fliegen
Gefangen in dem fürchterlichen Netz,

Um tot und ausgesaugt herabzufallen
In jene Jauche, deren Nebelwallen
Manchmal umzieht das ernste Weltgesetz,

Und wo schon Milliarden von Kadavern liegen.

In jedem Augenblick sind diesen Lachen
Schon Millionen Fliegen neu entkeimt
Und regen sich in unbedachtem Lehen,

Um wieder zu der Spinne aufzuschwehen.

Der Schaum und Blut um ihre Zangen schleimt.

Vor Lust und Gier, die Opfer eich zurecht zu machen.

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