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MEINE SELBSTERLEBTE, WAHRE GEISTER-
GESCHICHTE

Von R udyard Kipling, übersetzt von Leopold Rosenzweig. (Mit einer Leiste von Otto Linnekogel.)

DIESE Geschickte handelt ausschließlich
von Geistern. Es gibt in Indien Geister,
die die Form von dicken, kalten, klebrigen
Leichnamen annehmen und sich in Bäumen
nahe der Straße verbergen, bis ein Reisender
vorbeikommt. Dann fallen sie ihm auf den
Hals und bleiben da. Es gibt auch furchtbare
Geister von Frauen, die im Kindbett gestorben
sind. Diese streichen in der Abenddämmerung
die V/ege entlang oder verbergen sich in den
Getreidefeldern nahe den Dörfern und rufen
verführerisch. Aber ihrem Ruf zu folgen
bringt Tod in dieser Welt und in der nächsten.
Ihre Füße sind nach rückwärts gekehrt, so daß
alle nüchternen Männer sie erkennen können.
Es gibt auch Geister kleiner Kinder, die in
Brunnen geworfen worden sind. Diese halten
sich an Brunnenmauern und an den Rändern
der Dschungel auf und wimmern unter den
Sternen oder fassen Weiber am Handgelenk
und bitten, daß man sie trage. Diese und die
Leichnamgeister sind jedoch nur eingeborene
Artikel und greifen Sahibs nicht an. Von
keinem eingeborenen Geist ist bisher eine au-
thentische Kunde geworden, der einen Eng-
länder erschreckt hätte; aber viele englische
Geister haben schon Weißen und Schwarzen
die Seele herausgeängstigt.

Fast jede zweite Station besitzt ihren Geist.
Zwei sollen sich in Simla befinden, nicht ein-

gerechnet das Weib, das im Dak-Bungalow
von Syri an der alten Straße den Blasebalg tritt.
Massuri hat ein Haus, in welchem ein sehr
unruhiges Ding spukt; eine weiße Dame soll
rings um ein Haus in Lahore den Nachtwächter
machen; Dalhousie behauptet von einem seiner
Häuser, daß darin an Herbstabenden alle Ein-
zelheiten einer schrecklichen Pferde- und Ab-
grundkatastrophe wiederholt werden; Murri
hat einen lustigen Geist, und nun, da es von der
Cholera heimgesucht worden ist, wird es Raum
für einen traurigen haben; es gibt Offiziers-
wohnungen in Mian Mir, deren Türen sich
ohne Ursache öffnen und deren Möbel knacken,
nicht von der Junihitze, sondern von dem Ge-
wicht Unsichtbarer, die sich's in den Sesseln
bequem machen; Peschawur hat Häuser, die
niemand gern mietet; und in einem großen
Bungalow zu Allahabad ist etwas — nicht das
Fieber — nicht wie es sein soll. Die alten
Provinzen starren förmlich von Häusern, in
denen es spukt, und Gespensterarmeen mar-
schieren durch die Hauptstraßen ihrer Städte.

Einige der Dak-Bungalows an der Grand-
Trunk-Straße haben bequeme kleine Friedhöfe
innerhalb ihrer Umzäunungen — Zeugen der
Vergänglichkeit und der Zufälle dieses irdi-
schen Lebens aus den Tagen, da man von Kal-
kutta nach dem Nordwesten im V/agen fuhr.
Diese Bungalows sind keine einladenden Un-

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