Der Orchideengarten
Phantastische Blätter
Herausgeber Karl Hans Strobl /}£\ Schriftleiter Alf von Czibulka
/Xm.
Zweiter Jahrgang / Zwölftes Heft
DER TRAUM DES HIRTEN
Von Grazia Deledda. Übertragen von Magda Janssen.
Es ist eine Weihnachtsnacht, durchsichtig
und frisch, wie eine klare Herbstnacht.
Ein Wasserlauf schlängelt sich erst breit durch
die schwarzen Stoppeln, dann wird er schmäler,
entschwindet allmählich dem Gesichtskreis, wie
ein silbriges Leuchten, und löst sich schließlich
in ein blaues Dunstmeer auf. in eine große leere
Weite . . .
Es sind die ersten Stunden in der Nacht.
Die Blicke des Schafhirten verfolgen die Herden
auf der Weide. Im Mondlicht wandern die
gelben und schwarzen Tiere schlafmüde und
trübsinnig durch die Ebene und suchen das
kalte Gras unter dem Strauchwerk längs der
moosbedeckten Steinhaufen ab, und ihre Kuh-
glocken schaukeln und klingeln. Es ist eine
fremde seltsame Musik, wie eine eintönige
Kantilene, die bald näher kommt und sich dann
wieder verliert. Während die Herde langsam
auseinander läuft, belebt dies zitternde silber-
helle Läuten das Schweigen der Ebene, macht
esgleichsam eindringlicher.
Und der Hirt blickt auf.
Wilde Träume ziehn
durch seine Augen. Er ist
von der rauhen, heimat-
lichen Bergwand herabge-
stiegen. Ihre kalten Wei-
den, die im herrlichen
Frühjahr vom Duft der
Tirtillosblumen und des
Thymian durchzogen wa-
ren, bedeckt jetzt der
Schnee, worin die Fuß-
tapfen flüchtiger Hasen und
des Muflonschafs mit den
Schmachtaugen ihre Zeichen eingraben.
Der Schafhirt hat die hochgelegenen Weide-
plätze beim ersten herbstlichen Lufthauch ver-
lassen und ist zur Ebene niedergestiegen; in
seinem Sacco — dem langen Mantel aus ein-
heimischer Rauh wolle —, den er über den Kopf
wirft und unter dem Kinn zusammenbindet,
mit seiner Herde und seinem Hunde, seinem
Pferd, seinem Kochgerät, seinen Löffeln aus
Schafklauhorn und seinem Vorrat an Gersten-
brot für den ganzen Winter. Denn er führt
ein Nomadenleben, wenn er auch eine zahl-
reiche Familie sein eigen nennt, die sich im
hohen Bergnest droben niedergelassen hat.
Während er die Schafe auf der Weide hütet,
erscheint vor seinen Augen das Bild des roh-
gezimmerten Hauses, wo seine Lieben ihren
rauhen Winter verbringen. Dort, hinter den
lichten Nebeldämpfen des Mondes erheben sich
die versilberten Gipfel der Berge, und unter
den schneeigen Mulden, wo das Muflon haust,
schimmern dieTichter der
kleinen Ortschaft. Das
Haus des Schäfers ist aus
Stein und Holz; in der
geräumigen Küche raucht
die alte steinerne Feuer-
stätte, und über dem Holz-
stoß brodelt es in einem
großen schwarzen Koch-
topf. Das Haus des
Schäfers ist reich. Es giebt
dort Holz, Speck, Kar-
toffeln,Bohnen.DieFrauen
des Schafhirten haben das
ganze Jahr hindurch in
O. Sckon, Entrückt
I
Phantastische Blätter
Herausgeber Karl Hans Strobl /}£\ Schriftleiter Alf von Czibulka
/Xm.
Zweiter Jahrgang / Zwölftes Heft
DER TRAUM DES HIRTEN
Von Grazia Deledda. Übertragen von Magda Janssen.
Es ist eine Weihnachtsnacht, durchsichtig
und frisch, wie eine klare Herbstnacht.
Ein Wasserlauf schlängelt sich erst breit durch
die schwarzen Stoppeln, dann wird er schmäler,
entschwindet allmählich dem Gesichtskreis, wie
ein silbriges Leuchten, und löst sich schließlich
in ein blaues Dunstmeer auf. in eine große leere
Weite . . .
Es sind die ersten Stunden in der Nacht.
Die Blicke des Schafhirten verfolgen die Herden
auf der Weide. Im Mondlicht wandern die
gelben und schwarzen Tiere schlafmüde und
trübsinnig durch die Ebene und suchen das
kalte Gras unter dem Strauchwerk längs der
moosbedeckten Steinhaufen ab, und ihre Kuh-
glocken schaukeln und klingeln. Es ist eine
fremde seltsame Musik, wie eine eintönige
Kantilene, die bald näher kommt und sich dann
wieder verliert. Während die Herde langsam
auseinander läuft, belebt dies zitternde silber-
helle Läuten das Schweigen der Ebene, macht
esgleichsam eindringlicher.
Und der Hirt blickt auf.
Wilde Träume ziehn
durch seine Augen. Er ist
von der rauhen, heimat-
lichen Bergwand herabge-
stiegen. Ihre kalten Wei-
den, die im herrlichen
Frühjahr vom Duft der
Tirtillosblumen und des
Thymian durchzogen wa-
ren, bedeckt jetzt der
Schnee, worin die Fuß-
tapfen flüchtiger Hasen und
des Muflonschafs mit den
Schmachtaugen ihre Zeichen eingraben.
Der Schafhirt hat die hochgelegenen Weide-
plätze beim ersten herbstlichen Lufthauch ver-
lassen und ist zur Ebene niedergestiegen; in
seinem Sacco — dem langen Mantel aus ein-
heimischer Rauh wolle —, den er über den Kopf
wirft und unter dem Kinn zusammenbindet,
mit seiner Herde und seinem Hunde, seinem
Pferd, seinem Kochgerät, seinen Löffeln aus
Schafklauhorn und seinem Vorrat an Gersten-
brot für den ganzen Winter. Denn er führt
ein Nomadenleben, wenn er auch eine zahl-
reiche Familie sein eigen nennt, die sich im
hohen Bergnest droben niedergelassen hat.
Während er die Schafe auf der Weide hütet,
erscheint vor seinen Augen das Bild des roh-
gezimmerten Hauses, wo seine Lieben ihren
rauhen Winter verbringen. Dort, hinter den
lichten Nebeldämpfen des Mondes erheben sich
die versilberten Gipfel der Berge, und unter
den schneeigen Mulden, wo das Muflon haust,
schimmern dieTichter der
kleinen Ortschaft. Das
Haus des Schäfers ist aus
Stein und Holz; in der
geräumigen Küche raucht
die alte steinerne Feuer-
stätte, und über dem Holz-
stoß brodelt es in einem
großen schwarzen Koch-
topf. Das Haus des
Schäfers ist reich. Es giebt
dort Holz, Speck, Kar-
toffeln,Bohnen.DieFrauen
des Schafhirten haben das
ganze Jahr hindurch in
O. Sckon, Entrückt
I