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begonnen, für die die Nizzaer Polizei Hilfe aus
Paris verlangt batte — Giulio Balbis Ver-
schwinden. Georges batte Order, dabeim im
Hotelzimmer zu bleiben, und parierte auch bis
zum Nachmittag, wo er aus dem Hotel (Ter-
minus) hinausschlüpfte, quer über den Bahn-
hofplatz zu einem Kiosk, um alle erreichbaren
Zeitungen zu kaufen. Es wurde drei, vier, fünf
Uhr, und Monsieur Chassel blieb weiter un-
sichtbar. Georges las sein ganzes Zeitungspaket
durch. Aber er brauchte kaum mehr als das
erste seiner Blätter zu lesen, um über die Ur-
sache seiner und Monsieur Chassels Reise nach
Nizza im klaren zu sein. Zehntausend Franken
Belohnung für Aufklärungen über das Schick-
sal des Signore Giulio Balbis aus Neapel,
Zwanzigtausend für seine Herbeischaffung, tot
oder lebendig! Bon Dieu! Georges las seine
Zeitungen mit einer Aufmerksamkeit, die über
alles Lob erhaben war. Aber das Resultat
seiner Aufmerksamkeit entsprach nicht der
Mühe, die er dafür opferte.

Alle Zeitungen hatten nur dieselben Fakten
mitzuteilen — — dasselbe Faktum, konnte man
sagen. Signor Giulio Balbi aus Neapel, zu
gelegentlichem Besuch in Nizza, wohnhaft
im Hotel des Palmiers, nahm Samstag, den
31. Mai 1913, sein Mittagessen im Cafe de
Regence ein, in Gesellschaft seines Vaters, des
bekannten Inhabers der Agenzia Balbi, seiner
Mutter und einer Verwandten. Gegen halb
neun Uhr erhob sich der junge Signor Balbi
vom Tische. Man sah ihn in das Vestibül des
Cafes gehen, wo er nach Aussage des Portiers
seinen Strohhut holte, aber seinen Überrock
hängen lief?. Mit den Worten: „Komme in
einer Minute wieder,“ verschwand er auf der
Straße. D er Portier sah ihn nach links ein-
biegen und war vollkommen überzeugt, daß
die Straße im Augenblick menschenleer war.
Keine Spur über diese Tatsachen hinaus war

in den Verhören, die in der Sache abgehalten
wurden, zutage gekommen. Signor GiulioBalbi
war nicht nur nicht zu seiner Gesellschaft zu-
rückgekehrt, wo man bis halb elf auf ihn
gewartet hatte, bis man die Polizei alarmierte,
sondern er hatte überhaupt kein Lebenszeichen
von sich gegeben, seit er seinen Strohhut aus
der Garderobe des Cafes de Regence abgeholt
hatte. Nicht genug damit: Nizza ist eine ziem-
lich große Stadt, und es ist schon öfter als ein-
mal vorgekommen, daß Leute in Hintergäßchen
gelockt und ausgeplündert oder ermordet wur-
den. Aber dann hat man doch wenigstens die
Leiche oder Kleidungsstücke des Betreffenden
gefunden. Von Signor Balbi war nicht ein
Handschuhknopf zum Vorschein gekommen,
trotzdem man die umfassendsten Nachfor-
schungen an der ganzen Riviera angestellt hatte.
Konnte er zu Erpressungszwecken entführt
worden sein? Von keiner Seite war etwas
Derartiges verlautet. Niemand hatte davon
gehört, daß er sich für das andere Geschlecht
interessierte. Und mit seiner Familie stand er
auf dem besten Fuß. Also?! — — —

Georges setzte seine Studien mit gerunzelter
Stirn bis zum Einbruch der Dämmerung fort.
Es verging Stunde um Stunde, und Georges
hatte zu Mittag gegessen und Georges hatte
Kaffee getrunken, als endlich gegen halb neun
Uhr abends — dieselbe Zeit, zu der Signor
Balbi vor drei Tagen verschwunden war —
die Tür aufgerissen wurde und Monsieur
Chassel hereinkam.

Er war miserabler Laune.

„Hol' der Teufel Italien, die italienischen
Zeitungen und alle Italiener!“ brüllte er, indem
er sich auf das Sofa warf und das Gesicht
abtrocknete.

„Hat er auch Signor Balbi geholt, Monsieur?“
fragte Georges mit demutvoller Stimme.

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