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Von Guy de Maupassant. Deutsch von Otto Pick. (Mit 3 Zeichnungen von Max Schenke.)

Diese ganze Gegend war wunderbar, durch
einen Charakter beinahe religiöser Größe
und unheimlicher Trostlosigkeit ausgezeichnet.

Inmitten eines weiten Kreises nackter Hügel,
wo nur Stechginster gedieh und hie und da
eine bizarre, vom Wind zernagte Eiche, dehnte
sich ein geräumiger wildseltsamer Weiher mit
schwarzem, schlummerndem Wasser, darinnen
Schilfrohr zu Tausenden bebte.

Ein einziges Haus am Ufer dieses düsteren
Sees, ein kleines niedriges Haus, bewohnt von
einem alten Schiffer, dem Vater Joseph, der
vom Ertrag seines Fischfangs lebte. Jede Wo-
che trug er seine Fische in die benachbarten
Dörfer und kehrte mit den einfachen Vor-
räten zurück, die er zum Leben brauchte.

Ich wollte diesen Einsiedler sehen, der
mich einlud, mit ihm die Fischreusen heben
zu fahren.

Und ich nahm an.

Seine Barke war alt, wurmstichig und plump.
Und er, knochig und mager, ruderte mit mo-
notonem und sanftem Schwünge, der den be-
reits in die Trauer des Horizonts eingehüll-
ten Geist einwiegte.

Ich glaubte mich
in die ersten Zeiten
der',Welt entführt, in-
mitten dieser antiken
Landschaft, in die-
sem primitiven Kahn,
den dieser Mann eines
anderen Zeitalters
steuerte.

Er zog die Netze
hoch und warf die Fi-
sche mit den Gesten
eines biblischen Fi-
schers vor seine Füße
hin. Dann wollte er
mich bis an den Rand
des Moors fahren, und
ich bemerkte plötzlich
am anderen Ufer eine
Ruine, eine aufge-
schlitzte Strohhütte,
deren Mauer ein
Kreuz trug, ein rie-

siges rotes Kreuz, das mit Blut gemalt zu sein
schien, unter den letzten Strahlen der unter-
gehenden Sonne.

Ich fragte: „Was ist das?“

Der Mann bekreuzigte sich sogleich, dann
antwortete er: „Hier ist Judas gestorben.“

Ich war nicht überrascht, gleich als hätte
ich dieser sonderbaren Antwort gewärtig sein
können.

Indessen fragte ich hartnäckig weiter: .Ju-
das? Welcher Judas?“

Er setzte hinzu: „Der Ewige Jude, Herr!“
Ich bat ihn, mir diese Legende zu erzählen.
Aber es war etwas Besseres als eine Le-
gende; es war eine Geschichte, und eine fast
eben erst geschehene, denn der Vater Joseph
hatte den Mann gekannt.

Ehemals ward diese Hütte von einer großen
Frau, einer Art Bettlerin, bewohnt, die von der
öffentlichen Mildtätigkeit lebte.

Von wem sie die Hütte erhalten hatte, des-
sen entsann sich Vater Joseph nicht mehr. Eines
Abends nun kam ein Greis mit weißem Barte
vorüber, ein Greis, der zwei Jahrhunderte

zu zählen schien und
sich mühsam einher-
schleppte, und bat jene
Armselige um ein Al-
mosen.

Sie antwortete:
„SetzetEuch,V ater,
alles, was da ist, ge-
hört aller Welt, denn
von aller Welt rührt
es her.“

Er setzte sich auf
einen Stein vor der
Tür. Er teilte das Brot
der Frau und ihr La-
ger aus Lauh und ihr
Haus.

Er verließ sie nicht
mehr. Er hatte seine
Reisen beendet.

Vater Joseph fügte
hinzu: „Unsere liebe
Jungfrau war es, die
dies gestattet hatte.

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