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Der Orchideengarten

Phantastische Blätter

In ehrfürchtiger Scheu, mit zitternden Knien
stiegen die Brüder wieder die Treppe des
Turmes hinab. Kein Wort war gesprochen
worden. —

Als die letzten Schritte verhallt waren und
die schwere Türe dröhnend sich schloß, rührte
sich auch der Alte, der wie eine Statue neben
der Bahre gestanden hatte. —

Mit sicheren Schritten ging er durch den
lichtlosen Raum auf eine Säule zu. Er berührte
die glatte Fläche, und langsam öffnete sich,
weich ohne Geräusch, der Bauch der Säule. —
Aus einem Schreine nahm er behutsam eine
leuchtend schimmernde Phiole. Je einenTropfen
lief? er in die goldenen Schalen fallen, die rings
in gleichen Abständen den kreisrunden Raum
schmückten. — Sobald der Tropfen in die Schale
fiel, stiegen blauleuchtende Wolken vom
Grunde auf und erhellten in mystischem Zauber
den kuppelgekrönten Saal. —

Zwölf lichttragende Pfeiler waren es, in der
Mitte aber standen frei, sternengleich angeord-
net, sieben starre Säulen aus kostbarem Gestein,
eine jede in anderer Farbe. Im Zentrum des
Sternes erhob sich ein schwarzerSarkophag, der
düster dräuend auf ehernem Blocke thronte. —
Siebenmal zwölf finstere Schatten krochen die
farblosen Wände empor und formten in halber
Kuppelhöhe einen zitternden Kranz. Darüber
aber, von allen Lichtwolken erhellt, strahlte in
blauem Glanze, wie ein lauer Sommerhimmel,
die Kuppelmitte.

Der Alte ging zur Bahre, nahm Rose für
Rose vom Lager und ordnete sie sorgsam im
gähnenden Schlund des Sarkophags. Dann, als
keine Blume mehr die Bahre schmückte, faßte

er behutsam den erstarrten Leib und hob ihn
mit seinen schwachen Armen empor. — Bebend
wankte er mit seiner Last zum schwarzen Sarg
und bettete die kostbare Bürde auf das Rosen-
lager.

Die starren Züge der Toten leuchteten un-
irdisch im blauenWiderschein der Kuppel, und
eisige Kälte strömte von ihr und den Rosen
aus. — Der Greis mußte sich an eine Säule
stützen; auch ihn umklammerte Todesstarre,
sein Herz schlug nicht mehr, sein Atem
schwieg. — Dann langsam kam das Leben
wieder.

Er ging von Säule zu Säule, öffnete sie und
entnahm einer j'eden eine Phiole. Die sieben
Farben des Regenbogens leuchteten in seinen
Händen.

Ein Kristallgefäß stellte er zu Häupten der
Toten, ein anderes ihr zu Füßen. Von allen
sieben Phiolen fiel je ein Tropfen in die beiden
Gefässe, und bei j'edem Tropfen strahlte der
Raum in anderem Lichte. Als aber der siebente
Tropfen gefallen war, blitzten die Gefäße so
blendend weiß auf, als ob zwei Zwillings-
sonnen den Raum mit ihren Urkräften erfüllten.

Der Alte ging langsam zum Fußende des
steinernen Sarges und stellte sich so, daß das
Licht grell seine gelbgewandete Brust beschien.
Hinter ihm war die rote Säule, sein Rücken
berührte sie. Er hob die Arme empor; die
weiten Ärmel glitten hinunter. Wie schim-
merndes Elfenbein ragten die Arme weiß und
unbeweglich in die Höhe, und aus den Finger-
spitzen fluteten zitternde Lichtwellen hinauf
in den Äther. Auch seine Augen waren auf-
wärts gerichtet, und der Blick haftete in weiten

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