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DIE SCHIFFER ODER DIE RÜHRENDE HISTORIE VON

FELICE UND ANGELIKA

Von Sergej Ausländer. Mit einem Gedicht von Michael Kusmin. Deutsch von Johannes v, Guenther.

(Mit zwei Zeichnungen von Karl Ritter).

ls die wohledle Madonna
Angelika von ihrer alten
Dienerin erfuhr, dal? die
Verschwörung, von der
schon lange gemunkelt
wurde,ausgehrochen,und
dal? die Stadtwache am Dome
dem Drucke der anstürmenden
Rehellen nachgegehen, war ihr
erster Gedanke Felice, dessen

Vater, Paoli Lasci, wie bekannt, einer der ein-
flußreichsten Führer der diesmal unterlegenen
Partei der Guelfen war.

Und lebte Felice auch mit seinem Lehrer in
einer Villa in der Nähe von Marmo, so wurde
doch die Gefahr hierdurch nicht etwa kleiner,
im Gegenteil, sie konnte durch die völlige Ein-
samkeit größer werden, denn da war kein
Freund, der gegebenenfalles verstanden hätte,
die Großmut der Sieger zu erwecken, oder die
gegen den Vater gerichtete Erbitterung, die so
leicht auf den Sohn übergreifen konnte und
möglicherweise zu einem tragischen Ende ge-
führt hätte, zu beschwichtigen.

Im übrigen war die Lähmung der Furcht,
die anfangs Angelika überfiel, nicht von Dauer,
denn sie schrieb nicht nur Gedichte und las in
den griechischen Sängern, sondern sie war eben-
so mutig als entschlossen, wie es auch der
Tochter eines Soldaten geziemt, der viele be-
rühmte Feldzüge angeführt und ihnen all seinen
Reichtum und Einfluß verdankte.

Angelika verbarg ihre dichten, hellen Haare
unter einer runden Kappe, vertauschte ihre an-
mutigen Frauengewänder gegen den groben
Anzug eines Knaben, sattelte selber ihre graue,
schwarzgefleckte Stute und kam, nachdem sie
glücklich durch die Straßen Pisas gesprengt
war, wobei sie mehrere Male fast in ein Hand-
gemenge hereingeraten wäre, auf die sandige
Straße, die entlang dem Meere führte.

Es war schon völlig dunkel, als endlich aus
den tiefen Gärten die spärlichen Lichter
Marinos sichtbar wurden. Die Villa der Lasci

lag ein wenig abseits und dicht am Meeresufer.
Kein Diener war auf dem geräumigen Hofe,
kein Licht in den Fenstern, und eine jähe Angst
preßte für einen Augenblick das Herz Angelikas
zusammen, denn das Haus schien ihr bereits
verlassen. Nachdem sie ihr Pferd an einen
Ring gebunden hatte, stieg sie die Stufen herauf,
öffnete die Haustüre und betrat die dunkleVor*
halle. Aber schon während sie den ersten Saal
durchschritt, gewahrte sie ein schwaches Licht,
das durch eine Ritze jener inneren Türe drang,
die zum Zimmer Felices führte. Und als dann
auf das Geräusch ihres Klopfens hin ein
schlanker und schmaler Knabe, der fünfzehn
Jahre alt sein konnte, die Türe öffnete und mit
erstauntem Gesichte ihr ungewöhnliches Ge-
wand betrachtete und durchaus nicht sofort
darin die wohledle Madonna Angelika er-
kannte, da wäre sie fast in Ohnmacht gefallen,
denn sie fühlte eine plötzliche Schwäche in
allen ihren Gliedern, freilich war es wohl auch
die freudige Beschämung, daß sie Felice gesund
und heil vor sich sah.

Fattius, der alte Lehrer Felices, hob den
Kopf und bemühte sich, über seine Brillen-
gläser hinüberhlinzein d, den unerwarteten An-
kömmling zu erkennen, denn die beiden jungen
Menschen standen einander immer noch re-
gungslos in der Türe gegenüber, so groß war
ihre Verlegenheit. Endlich verlor der Alte die
Geduld und stand von seinem Platze auf, und
als er dann Angelika erkannte, rief er nicht
ohne Bewegung: „Heilige Mutter! Madonna,
was führt um diese Zeit Deine Gnaden zu uns?
Was für ein Anblick!“

Doch da er gewahrte, daß die Jungfrau vor
Müdigkeit fast umfiel, ließ er seine Fragen, er-
griff ihre Hand und setzte sie in den Sessel
dicht am Feuer, dann befahl er Felice Wein
herbeizuholen, ihr die schweren und schmutzi-
gen Reiterstiefeln auszuziehen und die Beine
mit einer besonderen Salbe einzureiben, die
gleichzeitig erwärmte und dem Körper die
Kraft zurückgab.

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