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In der Nähe von Marseille lebte auf seinem
Landgute ein Edelmann namens Mandals de la
Pallus mit seinen drei Töchtern. Nach dem
Tode seiner Gattin war alle mütterliche Zärt-
lichkeit für seine schönen Kinder in seine Brust
übergegangen, und er war bemüht, den heran-
blühenden Mädchen in dem herrlich gelegenen
Landgut eine unberührte Insel froher Natur
inmitten der Leiden und Laster der Zeit zu
schaffen. Gleichzeitig war er eifrig auf das
Seelenheil seiner drei Lämmer bedacht, und da
der Ruf der außerordentlichen Heiligkeit des
jungen Benefizianten Goffredy in Marseille
auch bis zu dem stillen Landgut gedrungen
war, so glaubte er nichts Gottgefälligeres tun zu
können, als diesen heiligen Mann zum Beicht-
vater für seine geliebten Töchter zu bestellen.

Goffredy ging also von da an in dem Hause
de la Pallus' aus und ein, und es zeigte sich
bald, daß seine innigste geistliche Fürsorge
immer ausschließlicher derJüngsten,Madeleine,
einem schlanken, empfindsamen Mädchen von
perlenfarhener Haut und hellblondem Haar,
galt, die er zu besonders häufigen und lang-
andauernden Beichten anhielt, da, wie er sagte,
ihre Seele zu etwas Ungewöhnlichem auser-
wählt sei. Das zarte Alter des erst vierzehn-
jährigen Beichtkindes mochte dem an hundert
Weibern bereits Übersättigten einen besonde-
ren Anreiz zur Ausübung seiner dämonischen
Kräfte bedeuten.

Die sinnverwirrende Mischung von reli-
giösen Seelenfragen und körperlichen Annähe-

rungen und Erregungen, zu denen diese unheili-
gen Beichtstunden reichliche Gelegenheit gaben,
verfehlte nicht, schon nach kurzer Zeit einen
solchen Einfluß auf das Kind auszuüben, daß
sich eine tiefe Melancholie in ihm entwickelte.
Die unheimliche Glut, die aus dem falschen
Beichtiger ihr zuströmte, versengte die zarten
Keime ihrer kaum sich entfaltenden natür-
lichen Triebe. Der Hauch seines Atems, in
den der Dämon die höllische Macht gelegt,
verfehlte seine Wirkung nicht, da er ja im
Grunde nichts anderes war als der Lebens-
hauch eines zwar innerlich verderbten, aber
äußerlich schönen jungen Mannes, der mit der
Glut seiner erfahrenen Lippen und mit der
Elfenbeinpracht seiner Rauhtierzähne, über-
leuchtet von der Schwärze seiner großen Augen,
ihr so nahe am Ohr von Dingen flüsterte, die
ganz allmählich mit einer Fülle finster funkeln-
der Bilder alles jugendlich Heitere und Keu-
sche überwucherten.

Nichts ist so geeignet, ein Mädchenherz zu
betören, als wenn der Eroberer ihm in glühen-
den Worten von einer Sphäre zu erzählen
weiß, in der er als ein Besonderer lebt, und
die bisher der Unschuldigen gänzlich ver-
schlossen war, und in die sie nun alle ihre un-
verbrauchte Sehnsucht und Phantasie, wenn
auch in entarteter Form, ergießen kann. — Nun
hieß hier diese Sphäre: Sinnenlust, Freiheit von
aller göttlichen und menschlichen Zucht und
Furcht, Herrschaft über Dämonen, die unge-
ahnte Freuden zu bringen vermöchten, leiden-

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