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Atem. Und sie sprach, obwohl wir allein im
Zimmer waren, mit gedämpfter Stimme, mit
echter Aufrichtigkeit und zarter Herzlichkeit:

„Verzeihen Sie, dal? ich Sie gekränkt habe.
Vielleicht täusche ich [mich in ihrem Gefühl,
vielleicht ist es ernsthafter, als ich glaubte.
Darum will ich Ihnen die ganze Wahrheit
sagen. Hören Sie zu. Meine Liebe zu Ssergej ist
nicht tot, sondern lebendig. Ich liebe Ssergej
nicht in der Vergangenheit, sondern in der
Gegenwart. V/ir sind voneinander gar nicht
getrennt. Ich lache nicht über Ihr Geständnis,
also lachen Sie auch nicht über das meinige.
Ssergej begann gleich nach seinem Tode mir
unsichtbar, aber fühlbar, zu erscheinen. Ich
spüre seine Nähe, ich fühle seinen Atem, ich
höre sein zärtliches Flüstern. Ich antworte ihm,
und wir führen leise Zwiegespräche. Zuweilen
kül?t er mir kaum wahrnehmbar das Haar, die
Wange, die Hand. Zuweilen glaube ich, ganz
dunkel sein Bild im Spiegel zu sehen. Sobald
ich allein hin, ist er sofort in meiner Nähe. Ich
hin an dieses Leben mit dem Schatten gewöhnt.
Ich liebe meinen Ssergej in seiner neuen Gestalt
ebenso leidenschaftlich und zärtlich, wie ich
ihn früher geliebt habe. Eine andere Liebe
brauche ich nicht. UncLich werde nicht dem
Menschen, der mich auch jenseits der Grenze
dieses Lehens nicht verlassen hat, die Treue
brechen. Und wenn Sie mir darauf sagen, daf?
ich phantasiere, dal? es eine Halluzination ist,
so werde ich Ihnen antworten: Das ist mir ganz
gleich! Ich hin mit meiner Liebe glücklich,
warum soll ich mich von meinem Glücke los-
sagen? Lassen Sie mir mein Glück!“

Jelena Grigorje wna sagte dies alles sehr sanft,
ohne die Stimme zu erheben, doch mit tiefster
Überzeugung. Der ernste Ton erschütterte mich
so sehr, dal? ich gar nicht wul?te, was ihr darauf
zu antworten. Ich blickte sie voller Angst und
Mitleid wie eine Verrückte an. Sie nahm aber
ihre Rolle als Hausfrau wieder auf und sagte
mit ganz anderer Stimme, als wollte sie alles
früher Gesagte zu einem Scherze machen:

„Es ist aber Zeit, schlafen zu gehen. Matwej
wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen.“

Matwej war der alte Diener des Hauses.
Ich kül?te mechanisch die mir dargebotene
Hand. Im nächsten Augenblicke kam schon
Matwej und forderte mich mürrisch auf, ihm
zu folgen. Nachdem er mich durch das ganze
Haus geführt hatte, zeigte er mir das für mich
gemachte Bett, wünschte mir gute Nacht und
liel? mich allein.

Jetzt erst kam ich eip wenig zur Besinnung.
Und, wie seltsam es auch ist, meine erste Emp-
findung war Scham. Ich schämte mich, dal?
ich eine so klägliche Rolle gespielt hatte. Ich
schämte mich, dal? ich, nachdem ich mit einer
jungen Frau ganze zwei Stunden in einem fast
leeren Hause gewesen war, mich nicht einmal
erkühnt hatte, sie auf den Mund zu küssen.
In diesen Augenblicken empfand ich statt
Liebe einen Hai? gegen Jelena Grigorjewna
und den Wunsch, an ihr Rache zu nehmen.
Ich dachte nicht mehr daran, dal? sie verrückt
sei; ich glaubte, sie habe sich über mich ein-
fach lustig machen wollen.

Ich setzte mich aufs Bett und sah mich um.
Ich kannte das Haus und wul?te, dal? ich mich

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