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Männern kostete wohl ihre Schöne eine Rippe,
andern sogar den Kopf.

Bei dem allen erlauben Sie mir, ganz be-
scheiden bei meiner alten Meinung zu bleiben.
Freilich, für den Augenblick haben Sie recht.
Sie wohnen jetzt im Paradiese des Ehefrüh-
lings.

Aber auch ich habe recht, nur mit dem
Unterschiede, dal? mein Recht sehr langsam
reif wird, wie jede Wahrheit, die man sich
lange weigert anzunehmen.

Sir, geben Sie acht! Ich fürchte, nach zwei
Jahren bereuen Sie, dal? Sie sich das Bein über
dem Knie ahnehmen ließen. Sie werden finden,
es hatte wohl unter dem Knie sein können.
Nach drei Jahren werden Sie überzeugt sein,
es wäre mit dem Verlust des Fußes genug ge-
wesen. Nach vier Jahren werden Sie behaup-
ten, schon die Aufopferung der großen Zehe,
und nach fünf Jahren die Amputation der
kleinen Zehe sei zu viel. Nach sechs Jahren
werden Sie mir eingestehen, es wäre am Be-
schneiden der Nägel genug gewesen.

Alles das sage ich unbeschadet der Ver-
dienste Ihrer reizenden Gemahlin. Damen kön-
nen Schönheiten und Tugenden unveränderter
bewahren als Männer ihre Urteile. In meiner
Jugend hätte ich alle Tage für die Geliebte
das Lehen, in meinem Lehen aber kein Bein
hingegeben; jenes würde mich nie, dies zeit-
lebens gereut haben. Denn hätte ich s getan,
ich würde noch heute sagen: Thevenet, du
warst ein N arr! Womit ich die Ehre habe
zu sein, Sir, Ihr gehorsamster Diener

G. Thevenet.“

Im Jahre 1793, während der revolutionären
Schreckenszeit, flüchtete Herr Thevenet, den

ein jüngerer Wundarzt in Verdacht der Ari-
stokratie gebracht hatte, nach London, um
sein Leben vor dem Messer der alles gleich-
machenden Guillotine zu retten.

Aus Langerweile, oder um Bekanntschaften
anzuspinnen, fragte er dem Sir Charles
Temp 1 e nach.

Man wies ihm dessen Palast. Er ließ sich
melden und ward angenommen. In einem Lehn-
sessel beim schäumenden Porter am Kamin,
umringt von zwanzig Zeitungen, saß ein dicker
Herr; er konnte kaum aufstehen, so schwer-
fällig war er.

„Ei, willkommen, Herr Thevenet!“ rief der
dicke Herr, der wirklich kein anderer als Sir
Temple war. „Nehmen Sie es nicht übel, daß
ich sitzen bleibe, aber der vermaledeite Stelz-
fuß hindert mich an allem. — Freund, Sie kom-
men vermutlich, um nachzusehen, oh Ihr
Recht reif geworden sei?“

„Ich komme als Flüchtling und suche Schutz
hei Ihnen.“

„Sie müssen bei mir wohnen; denn wahr-
haftig, Sie sind ein weiser Mann. Sie müssen
mich trösten. Wahrhaftig, Thevenet, heute
wäre ich vielleicht Admiral der blauen Flagge,
hätte mich nicht das gottlose Stelzbein für den
Dienst meines Vaterlandes untauglich gemacht.
Da lese ich nun Zeitungen und fluche mich
braun und blau, daß ich nirgends dabei sein
kann. Kommen Sie, trösten Sie mich!“

„Ihre Frau Gemahlin wird Sie besser zu
trösten wissen als ich.“

„Nichts davon. Ihr Stelzfuß hinderte sie
am Tanzen, darum ergab sie sich den Karten
und der Medisance. Es ist kein Auskommen
mit ihr. Übrigens ein braves Weih.“

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