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Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 3.1921

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Achtes Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.29028#0176
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lang schloß er die Augen und antwortete dann
demMädchen,wie aus einem Schlaf erwachend:
„Nein, Maria, sagen wir lieber lebendig.“
Traurig nickte das Mädchen und ließ den
Kopf hängen. „Sie könnens nicht sagen,“ flü-
sterte sie leise, „weil Sie nicht wissen, daß Sie
tot sind. Aber ich weiß es. Wir sind alle tot,
alle und müssen ewig ein Dasein führen wie
dieses. Ewig! Das ist die Hölle! — Aber auch
das wissen Sie nicht, Herr Professor“, sagte sie
lauter und sah den Arzt von unten her an.
„Ewig! E — w — ig! Stellen Sie sich's nur ein-
mal recht vor: ewig, für alle Zeiten, für Jahre,
Jahrhunderte,Jahrtausende,jaMillionen,ach,so
lange, wie niemand mehr zählen kann. Denken
Sie, wenn der Vogel den Diamantherg mit sei-
nem Schnabel abgewetzt hat, dann ist erst eine
Sekunde der Ewigkeit verflossen. Ach, Sie
können's nicht verstehen, was es heißt, ver-
dammt zu sein, ewig so und nicht anders weiter-
existieren zu müssen. Das ist die Hölle, Herr
Professorin der man für seine Sünden büßt. —
Aber man muß beten! Gott ist gut und all-
mächtig. Vielleicht kann er auch der Ewigkeit
ein Ende setzen.“ Leise murmelnd begann sie
ihre Gebete an den Perlen des Rosenkranzes
abzuhasten.
Der Professor hatte seine überlegene Ruhe
wiedergefunden. „Da haben Sie das ganze
Wahnsystem der Kranken,“ wandte er sich an
seinen Begleiter. „Aber

dern, lieber Professor“, sagte er. Man sieht's
Ihnen nicht an, daß Sie seit 8 Uhr auf den Beinen
sind, und selbst der Ihre Kräfte üherspannende
Versuch, bei diesem jungen Mädchen die Hyp-
nose zu erzwingen, scheint spurlos an Ihnen
vorübergegangen zu sein. Ich fürchtete ernstlich.
Sie hätten sich zuviel zugemutet.“
„Derartige Versuche müssen stets bis hart an
die Grenze des Möglichen getrieben werden“,
antwortete der Professor und bot dem anderen
eine Schüssel mit kaltem Aufschnitt.
„Aber so erklären Sie mir doch, aus welchen
Gründen Sie Ihre Stellung aufgeben wollen, die
Sie noch vollkommen auszufüllen vermögen.“
„Auch der gewandteste Akrobat wird eines
Tages fühlen, wie seine gewagten Sprünge un-
sicher werden. Dann ist es Zeit für ihn, seinen
gefährlichen Beruf aufzugeben, wenn er nicht
ahstürzen und sich den Kopf zerschmettern will.
So, genau so geht es mir. — Sie sahen selbst, wie
mir die Hypnose dieses jungen Mädchens elend
mißlang. Das ist ein Symptom für meine ab-
nehmende Sicherheit.“
„Aber, lieber Professor, auf ein derartiges
Versagen müssen wir Psychiater doch täglich
gefaßt sein.“
„In diesem Fall rührt das Versagen nicht
daher, daß Maria sich für die Hypnose schlecht
oder gar nicht eignet. Meine eigene innere Un-
sicherheit ist schuld, das weiß und fühle ich
selbst am besten. — Sie
schütteln den Kopf,
Kollege? — Lassen Sie
mich die Geschichte des
Mädchens erzählen,
vielleicht begreifen Sie
dann, warum ich mich
vor ihr unsicher fühle,
und warum dies Sym-
ptom für mich ausschlag-
gebend sein muß. Übri-
gens kann ich mich für
jedes Wort der etwas
seltsamen Geschichte
verbürgen, da ich die
Wahrheit durch Pro-
tokolle und Gutachten
von Sachverständigen
überprüfen konnte.
Maria war in der
hiesigen Stadt Kinder-

kommen Sie! Sie müssen
müd und hungrig sein,
und auf meinem Zim-
mer wartet schon lange
das Essen auf uns beide.“
Bei diesen Worten
waren sie wieder auf /
v
den Gang hinausgetre- /y
ten, und der Professor
leitete seinen Nachfol-
ger auf sein Arbeits- |/i
zimmer. Froh, sich end-
lich ausruhen zu dür-
fen, setzte sich Dr. Hilfs-
stett auf den angewie-
senen Stuhl und schlürf-
te begierig seine Kraft-
brühe.
„Ich muß wirklich
Ihre Ausdauer bewun-


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