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Otto, Walter F.
Der Geist der Antike und die christliche Welt — Bonn: Cohen, 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.53036#0013
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ZUR EINFÜHRUNG
1.
WIR sind heute in einer abenteuerlich ungewissen mora-
lischen Lage: unserer alten Heimat, den Altären der Väter
entfremdet und auf der Suche nach neuem Land — arm und
reich zugleich. Sollen wir trauern über das Verlorene — und
was haben wir nicht verloren? — sollen wir uns Glück wün-
schen, daß das Ungenannte und Unerlebte im Weiten vor uns
liegt?
Aber sind wir denn auch los und ledig genug zur Fahrt? Be-
lasten uns keine Prunkstücke aus den Tempeln, die wir ent-
täuscht verlassen haben? Sind unsere Herzen nicht schwer von
nachhängenden Empfindungen für die alten Götter?
Ein unheimliches Gefühl macht die Bewegung zögernd. Wo-
hin wir schauen, nirgends helle Aussicht. Das Größte und Ver-
ehrungswürdigste sinkt vor unsern fragenden Augen in Trüm-
mer. Aus allen Jahrtausenden blitzt es uns an — Möglichkeiten
über Möglichkeiten; wir nehmen eine nach der anderen wählerisch
in die Hand, entzücken uns eine Weile, und legen sie wieder
hin — ,das bist du nicht*. Vielleicht sind wir am Ende ange-
kommen? Wo ist das Schöpferglück der alten Zeiten hinge-
schwunden? Nicht weil wir Besseres wüßten, lächeln wir über
ihre Idole — ein wehmütiges Lächeln. In uns ist keine Flamme
aufgeblitzt.

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