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Otto, Walter F.
Der Geist der Antike und die christliche Welt — Bonn: Cohen, 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.53036#0066
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Gott selbst seine Trauten zu nennen! Gott, Schicksal und Mit-
mensch — diese drei bedenklichen Größen, mit denen es sich
so bitter quälen mußte! Dem unfreien Geist ist ja nur die eine
Wahl gestellt: zu hassen oder stürmisch zu lieben. Und er wählte
die Liebe.
3.
Man wird sagen, eine Kritik der christlichen Religion, die gerade
im Gebot der Liebe einen Beweis ihrer Unfreiheit findet, urteile
zum mindesten über diese Liebe allzu hart. Das Wort Liebe ist
vieldeutig. Wir wollen ein anderes dafür setzen, ein Wort, das
die freundliche Gesinnung eindeutig bezeichnet, nämlich „Güte“.
Es hat den Vorzug, einen Punkt klar zu beleuchten, der bei der
Liebe so gern in unheimlichem Dunkel bleibt. Die Liebe kann
Schwäche und Haltlosigkeit der Seele verraten; gütig aber kann
man nicht aus Schwachheit sein. Wie nun? Wagt jemand, die
christliche Gesinnung gütig zu nennen? Die Sprache der be-
rühmten Zeugen, Lehrer und Vorkämpfer der christlichen Kirche
ist ohne Frage die ungütigste, die jemals von Vertretern einer
großen Sache geführt worden ist. Sie gärt von offenem oder
geheimem Haß gegen alles, was der Sehnsucht nach dem Heil
der Seele nicht schmeichelt. Sollte wirklich zwischen diesem
Haß und jener Liebe keine innere Verwandtschaft bestehen?
Am deutlichsten qualifiziert sich die christliche Liebe durch
den Haß gegen die Natur im weitesten Sinne. Der Christ wendet
zwar ein, es sei Verleumdung, daß er sie hasse; er verehre und
liebe vielmehr in ihr die Schöpfung und Regierung Gottes. Und
wirklich läßt man sich von ihm bereden. Als ob die Huldigung für
denHerrn derWelt im Widerspruch stehen müßte zum Haß gegen
die Natur selbst, die der Glaube ihm unterwirft. Eher könnte man
in dem christlichen Gottesglauben einen der stärksten Beweise
für den Naturhaß finden. Der Christ haßt an der Natur eben
das, wodurch sie Natur ist: jenes geheimnisvolle Wirken, das,
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