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Otto, Walter F.
Der Geist der Antike und die christliche Welt — Bonn: Cohen, 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.53036#0081
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und den letztenGeheimnissen,so erschrickt man über die W ürde-
losigkeit, deren der Mensch fähig geworden war. Dort die
Gottheit als der erhabene Freund und Begleiter; hier als Herr,
der zwar Vater heißt, zu dem man aber nicht in aufrechter Hal-
tung spricht, sondern gebückt, wie ein Knecht, der Prügel ver-
dient hat — „mit dem Stock Deiner Zucht zerschlugst Du mich“,
sagt Augustin zu ihm. Dort der stolze Glaube an die dem
wahren Leben innewohnende Göttlichkeit und Glückseligkeit;
hier ein tränenreiches Winseln um die Gnade des ewigen Lebens,
das die altchristliche Literatur zu einem Dokument der Schande
macht. Man fragt sich befremdet, was die Menschen zu dieser
Niedrigkeit der Haltung gebracht haben kann. Neue Erkennt-
nisse etwa? Einsichten entwürdigen nie. Hier verrät sich der
Instinkt unvornehmer Naturen, durch Unterwürfigkeit und Er-
regung von Mitleid emporsteigen zu wollen. Und er ist es auch,
der sich die neuen Erkenntnisse schafft. Nichts ist ihm ver-
ständlicher, als ein Herr, der die ungeheuerlichsten Veranstal-
tungen nötig hat, bloß um zu verzeihen; der seine Widersacher
die er nicht an sich zu ziehen vermag, nicht etwa duldet oder
wenigstens vernichtet, sondern ewig im Dasein erhält, zu keinem
andern Zweck, als daß sie ewige Qualen fühlen. Der jüdisch-
christliche Instinkt bricht in die helle Welt des Heidentums, die
den Gottesgedanken längst in reinere Sphären erhoben hatte,
wie ein dunkles Verhängnis ein. — Will man ein christliches
Gegenstück zu jenem heidnischen Bekenntnis, so höre man
Augustin, wie er den Disput der Philosophen über das höchste
Gut mit den Worten abtrumpft: „Fragt uns jemand, was wir
von dem höchsten Gute denken, so antworten wir: das ewige
Leben ist das höchste Gut; damit wir dieses erlangen, müssen
wir hier ein rechtes Leben führen.“ Nicht überall stellt sich der
jüdisch-christliche Charakter so unverhüllt zur Schau. Er ist
ungemein geschickt, durch glänzende Schleier die reinste Geistig-
keit vorzutäuschen. Aber der einmal geschärfte Blick wird immer

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