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Paatz, Walter <Prof.Dr.>
Werden und Wesen der Trecento-Architektur in Toskana: die grossen Meister als Schöpfer einer neuen Baukunst: die Meister von S. Maria Novella, Niccolò Pisano, Giovanni Pisano, Arnolfo di Cambio und Giotto — Burg b. M., 1937

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https://doi.org/10.11588/diglit.34058#0141
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Trecentisten nutzte oder nicht — auf jeden Fall gelangte Giovanni Pisano an den Punkt,
von dem Brunelleschi ausging.
Doch wir wollen diese Probleme hier nur andeuten und einer näheren Untersuchung
empfehlen, nicht aber lösen. Eines freilich dürfen wir feststellen: in Giovannis letztem
Baugedanken wurde die Kompositionsweise der Renaissance weitgehend vorbereitet.
Daß zwischen den Schöpfungen der eigentlichen Renaissance und diesen Werken des
beginnenden Trecento auch wesentliche Unterschiede bestehen, übersehen wir deshalb
keineswegs. Es ist nicht gleichgültig, daß die Quattrocentisten und Cinquecentisten ihre
Baugedanken in einer vorwiegend antikischen Sprache formulierten, daß Giovanni da-
gegen sich vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, in gotischen Wendungen aus-
drückte. Dennoch: das „Satzgefüge", das „Sprachgefühl" und damit eine der tiefsten er-
forschbaren Schichten künstlerischer Gesetzlichkeit überhaupt, sie sind bei den Meistern
der Renaissance und bei dem Trecentisten einander sehr ähnlich. Diese Tatsache mag
überraschen, aber sie ist historisch durchaus denkbar. Daß sich unter dem Mantel eines
alten Wortschatzes eine ganz neue Rhythmik ausbilden kann, und daß diese Rhythmik
sich dann auch einen neuen, ihre Tendenzen reiner erfüllenden Wortschatz schafft, in
einer plötzlich aus dem Schatten des Folkloristischen hervortretenden neuen Kultur-
sprache, das hat uns die Romanistik gelehrt. Wohlverstanden, unser Vergleich zielt nur
auf das Allgemeine des Vorganges, nicht auf dessen besondere Formen (obwohl die Ge-
burt der italienischen Sprache mit der Geburt der neuitalienischen Kunst zeitlich und
örtlich zusammenfällt). Dies vorausgesetzt, können wir sagen: die Logik der späten
Baugedanken Giovannis ist zu anschaulich, zu „plastisch", und vor allen Dingen zu
dynamisch, als daß sie noch gotisch oder romanisch heißen könnte; und die Pathetik
dieser Baugedanken ist zu pointiert, um antik zu wirken. Unter dem Formenschatz der
alten historischen Stile regt sich also ein wesentlich neuartiges Leben, und dieses weist
auf die kommende Epoche voraus: auf die Welt der italienischen Renaissance. Daß es
so ist, hat niemand deutlicher empfunden als die Renaissance selbst. Giovanni Pisanos
Werk war eine Quelle fruchtbarer Anregung für Brunelleschi, Jacopo dellaQuercia und
Michelangelo. Vasari sagte von ihm, und zwar unmittelbar anschließend an die Be-
sprechung des Prateser Chores: „Wenn man es recht überlegt, schuldet man Giovanni
viel; in Zeiten tiefster Verdunkelung, denen jede kompositionelle Verfeinerung fern lag,
bedeutete sein und seines Vaters außerordentliches Können für die Baukunst und die
Bildhauerei eine wahre Erleuchtung^")."

Wir stehen am Ende unserer Untersuchung. Zusammenfassend dürfen wir folgendes
sagen. Giovanno Pisano entwickelte an der Pisaner Domkanzel (1302—1310) und am
Domchor von Prato (1317) einen Altersstil. Ausgehend von der dynamischen Kom-
positionsweise seiner Sieneser Fassade und von der potenzierenden Kompositionsweise
des späten Arnolfo schuf er einen dynamisch-potenzierenden Stil, der über seine früheren
Leistungen ebenso hinausging wie über Arnolfos Leistungen. Sein Leitstern war dabei
die Antike; seine Mittel, teils von altrömischen Monumenten entlehnt, teils aus eigenen,
älteren Schöpfungen und aus arnolüanischen Anregungen entwickelt, waren: antithe-
tische Typisierung der Glieder, Einführung von elastisch schwellenden Motiven und
potenzierende Anordnung der einzelnen Formen. Das Ergebnis war ein folgenreicher,
erst von Brunelleschi ganz gewürdigter und ausgewerteter Vorstoß in das Neuland der
Renaissance. Vor einem Menschenalter schrieb Georg Dehio vom Florentiner Dom und
dessen Verwandten: „In diesen Bauten sind architektonische Probleme aufgeworfen,
welche aus der Gotik herausführen, wenn sie auch noch mit deren formalen Hilfsmitteln
gelöst sind^*)." Wir können das bestätigen und dürfen noch hinzufügen: auch die Hilfs-

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