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!er machen das denkbar deutlich. Leonardo hat für seine Anbetung
der Könige und für sein Abendmahl in einer höchst aufschlußreichen
Studie die Figuren zunächst einmal nackt hingezeichnet und erst spä-
ter, in einem zweiten Arbeitsgang, die Gewänder hinzugefügt, und
zwar so, daß sich ihr Faltenwurf aus der Bewegung der nackten Glie-
der ergab (Abb. 36b). Auch Raffael ist ähnlich verfahren. Bereits
A 1 b e r t i hatte dieses Verfahren in seinem Traktat über die Malerei
empfohlen. Weiß man um dies alles, so wird man begreifen, wie eng
in der Renaissancekunst Malerei, Plastik und ArAitektur zusammen-
hingen und wie das zustande kam, was den Figuren auf den Renais-
sancegemälden ihren hohen Reiz gibt: Natürlichkeit, Gesetzmäßigkeit
und statuarische Würde. Leonardos Leda ist ein bezeichnendes Bei-
spiel -s-. Die Bedeutung der „wahren" und „schö-
nen" Proportion reicht übrigens über den Bereich des Ästhe-
tischen weit hinaus. Alberti hat in seinen Traktaten der Überzeugung
Ausdruck gegeben, Kunst, Sittlichkeit und Staatsgesinnung bildeten
ein großes Ganzes; ihm zufolge ging der altrömische Staat und mit
ihm die antike Kunst samt ihrer Wahrheit und Schönheit zugrunde,
weil die römische „virtü" zusammenbraA; er proklamierte es als Auf-
gabe der Architektur aller Zeiten, einen würdigen Schauplatz für die
würdigen Handlungen würdiger Menschen zu sAaffen Noch wei-
ter ging der Mathematiker Luca Pacioli, der Freund des großen Ma-
lers Piero della Francesca. Er betitelte einen von ihm verfaßten Trak-
tat „De divina proportione" - „Uber die göttliche Proportion", ln
diesem Titel kommt das Gefühl zum Ausdruck, in der Schönheit der
Proportionen offenbare sich die Harmonie der göttliAen Weltordnung.
Das ÄsthetisAe wird also auf das Religiöse begründet, die Form als
Ausdruck des Göttlichen gewertet. Diese religiöse Bewertung der
Proportionskunst war allen führenden Geistern der Renaissance ge-
meinsam.
Die Perspektive-'''''. Das Wort Perspektive mag in den Zeitgenos-
sen, die noch bald nach 1900 zur Schule gegangen sind, peinliche Er-
innerungen an langweilige Zeichenstunden wach rufen. Für die Men-
sAen der Renaissance war es aber ein Zauberwort. Die „Prospectiva"
bedeutete ihnen ein wundervolles Geheimnis, ein Mysterium, dessen
Enträtselung Forscherleidenschaften erweckte, ein Problem, das in
gleichem Maße die bildenden Künste und die Naturwissenschaften
anging, ja sogar die Philosophie und die Theologie, ein zentra-
les Problem von physischer und auch von metaphysisAer Trag-
weite, eine „symbolische Form", wie es Erwin Panofsky treffend aus-
gedrückt hat. Die Entdeckung, daß gleichgroße Gegenstände bei wach-
sendem Abstand vom Auge dem Betrachter kleiner ersAeinen, daß
Parallelen, die in die Tiefe hineinführen, siA einander immer mehr

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