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H. LINDE, MÄRCHENERZÄHLER

JOSEF ISRAELS

AS Leben der Wirklichkeit
bietet ein verwickeltes, und
für die, die es beobachten,
oft ein widerwärtiges Spiel.
Menschen, die im grofsen
und ganzen alle erfüllt sind
von den nämlichen Grund-
leidenschaften und Gedanken,
von Regungen und Wünschen
der nämlichen Art, verstehen
sich kaum, sie versuchen nicht
einmal, zu gegenseitigem Ver-
ständnis zu gelangen, ja sie verstellen sich womöglich vor
einander. Auch da, wo sie sich einander näher zu kommen
glauben, sind sie immer noch auf ihrer Hut; wie sich schon
der Argloseste von Jugend auf darin übt, sich möglichst so
zu geben, wie er gerade nicht ist.

Die Gesichter der Menschen sind Masken, ihr Betragen
hat immer etwas kompromifsartiges und was sie so reden,
erinnert mitunter an die Ammenlieder, welche die Kinder
sich singen, nur um die Angst vor der Stille ringsum nicht
zu empfinden. Was sie sagen, sagen sie um die Aufmerk-
samkeit von dem abzulenken, das sie im Inneren eigentlich
beschäftigt, und Geberden der Gleichgiltigkeit maskieren, was
dies etwa verraten könnte. Bei den sogenannten Gebildeten
ist das beinahe Regel. Dieses ganze Spiel freilich geschieht
sozusagen unbewufst, wie aus einem instinktiven Trieb zur
Selbstverteidigung heraus, und ebenso unwillkürlich wie
das Atemholen. Es ist wie ein Panzer, mit dem sie ihr In-
neres zum Schutz gegen die Aussenwelt umgeben.

In Menschen, an denen wir achtlos vorübergehen, glühen
Feuer und wir ahnen nichts davon; in ihrer Seele tobt ein
fortwährender Kampf und wir wissen es nicht; sie tragen

ein Licht mit sich umher, — wir aber sehen es nicht; sie er-
leiden Gewissensqualen und nur ganz selten empfinden wir
mit ihnen; wir sehen zwar ihre Körper und sehen ihre ver-
zerrten Gesichter, — das Leben ihrer Seele aber bleibt uns
verborgen.

Nur der Künstler, der allein weiter und tiefer blickt, läfst
sich nicht durch diese künstlich ruhige Aufsenseite beirren,
er sieht durch sie durch, die Welt ist ihm wie ein unermefs-
licher Sternenhimmel, aus dem jeder Punkt sein eignes Licht
auf ihn hinabstrahlt. Auch hinter jener frostigen Hülle der
menschlichen Schüchternheit weifs er die Glut zu fühlen
und das Herz zu spüren. Und das Leben wäre eine öde
Wüste mit lauter sich fremd bleibenden Einsamen, wäre
nicht der Dichter, der sein lebendiges Licht ausstrahlen läfst,
das unsere Blindheit hebt und uns die Möglichkeit giebt,
dafs wir einander doch immer wieder entdecken können.

Josef Israels ist ein solcher Dichter, denn er holt die Em-
pfindungen zu seinen Bildern nicht aus einer überirdischen
Gedankenwelt, sondern hat gerade das Allergeringste wohl
am allermeisten lieb, das Alltäglichste erscheint ihm als das
Erhabenste, und das Einfachste vermag ihn am tiefsten zu
rühren. Er ist ein Darsteller der Wirklichkeit, Realist also,
aber ein Realist, der immer und überall durch den dürren
Schein der Dinge hindurchzublicken versteht. Jener sinnige
Maler hat Recht, der einst behauptete: „das Auge sieht
Manches, von dem das Herz nichts weifs". Und ganz so hat
sich Israels Blick auf die Natur in bewunderungswürdiger
Weise von einem rein mechanischen Sehen, ohne Beteiligung
des Gefühls, fern gehalten. So einfach und grofs wie er das
ganze Leben sieht, so einfach und grofs ergreift er auch das
Sein und Dulden, das Mühen und das dumpfe Brüten derer,
die da darben, denn in seiner beredten Wiedergabe ihres
stillen Schaffens weiss er dasjenige, das tiefer liegt, das die

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