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FRANZÖSISCHE KUNST

NEOIMPRESSIONISMUS

NTER Neo-Impressionisten ver-
steht man diejenigen Maler,
»welche die Experimente Dela-
croix' und der Impressionisten
i in Bezug auf Licht und Farbe
' weiter verfolgt haben und die
i dahin gelangt sind, die Technik
'einer prismatischen Farbenzer-
legung zu begründen und aus-
zubilden und zwar durch Be-
||| __^ obachtung der Gesetze des

Kontrastes und durch künstlerische Ausnützung des Mischungs-
prozesses, der sich absolut reinen Farben gegenüber in unserem
Auge vollzieht.

Auf der letzten Ausstellung der Impressionisten in Paris

1886 war es, wo man zum erstenmal Bilder sah, die nach
diesen Grundsätzen gemalt waren. Ihre Leuchtkraft und ihre
harmonische Stimmung fielen sofort auf. Georges Seurat,
der Begründer dieser entwickelungsfähigen Technik, hatte
hier das erste prismatisch aufgelöste Bild; sein berühmtes
„Un dimanche ä la grande Jatte". Mit ihm zugleich stellten
der impressionistische Meister Camille Pissarro, dessen Sohn
Luden, und Paul Signac ähnlich ausgeführte Werke aus.

Im selben Jahre, bei der zweiten Ausstellung der Societe
des Artistes Independants, lieferten Georges Seurat, Lucien
Pissarro, Paul Signac, denen sich noch Dubois-Pillet und
Angrand angeschlossen hatten, eine zweite Schlacht. Seitdem
wächst bei jeder der jährlichen Ausstellungen die Zahl der
Neo-Impressionisten; die Vorzüge der prismatischen Farben-
zerlegung führen ihr immer neue Anhänger zu. So im Jahre

1887 Maximilien Luce, 1890 Van Rysselberghe und Van
de Velde, 1 891 Henri Edmond Cross und Hippolyte Petit-
jean. Dank der unermüdlichen Forschung und Mitarbeit all
dieser Männer, hat sich ungeachtet schwerer Verluste durch
Tod und allen Anfeindungen zum Trotz das Prinzip der pris-
matischen Farbenzerlegung stets weiter entwickelt, um sich
schliefslich zu der klaren Technik durchzugestalten, die wir
im Folgenden darzulegen versuchen. Werke von Neo-
Impressionisten wurden ausgestellt: in den vierzehn Aus-
stellungen der Societe des Artistes Independants "in Paris, in
einer von Durand-Ruel geleiteten Ausstellung in New-York,
in den jährlichen Ausstellungen der XX und der Libre

Esthetique, der „Association pour l'Art" in Antwerpen
und in Sonderausstellungen in Paris (Hotel Brebant und
Rue Laffitte).

Eine bedeutsame Ausstellung von Werken dieser Künstler
wird im kommenden Herbst in Berlin eröffnet werden und
so wohl besser als alle Worte das Ziel, das sie suchen und
die Resultate, die sie gefunden haben, darthun.

Die Neo-Impressionisten „zerlegen die Farbe" — um
den höchst möglichen Grad an Leuchtkraft, an Farbenglanz
und an Harmonie zu erreichen; — sie halten kein anderes
Mittel hierzu für genügend. Unter diesem „Zerlegen" ist zu
verstehen:

1) Die Ausnützung des Mischungsprozesses, der sich bei
vollkommen reinen Farben (d. h. bei Farben, die denen des
Sonnenspektrums am nächsten kommen) auf der Netzhaut
unseres Auges vollzieht.

2) Das Getrennthalten der verschiedenen Elemente, welche
die einzelnen Nuancen ergeben, also der Lokalfarbe, der
Beleuchtungsfarbe, der Reflexfarbe u. s. w.

3) Die Abwägung und die Ausgleichung dieser Elemente
gegeneinander (nach den Gesetzen der Kontrastwirkung, der
Abschwächung und der Strahlung).

4) Die Verwendung von einzelnen Pinselstrichen, deren
Gröfse in einem richtigen Verhältnis zur Gröfse des
Bildes selbst stehen, sodafs sie beim erforderlichen Abstand
mit den angrenzenden Pinselstrichen im Auge eine Mischung
eingehen.

Aufser diesen vier Regeln, die nach ihrer Ansicht die
Farbengebung bestimmen, berücksichtigen die meisten Neo-
Impressionisten noch die geheimnisvolleren Gesetze, die das
Zusammenwirken von Linie und Farbe ordnen, insbesondere
wollen sie, dafs die Linien, ebenso wie die Licht- und Schatten-
verteilung (Tönung) und die Farbe (Nüancierung) zu dem
besonderen Charakter der Bilder passen. Die Liniendominante
wird durch das Sujet bestimmt werden: horizontale Linien
werden Ruhe ausdrücken, steigende — Freude, sinkende —
Trauer, eine Menge dazwischen liegender Richtungen der
Mannigfaltigkeit unserer Empfindungen Rechnung tragen.
Zu den emporstrebenden Linien werden sich warme Nuancen
und helle Töne gesellen; die absteigenden kalte Nuancen
und dunkle Töne fordern. Je nachdem das Gleichgewicht
zwischen kalten und warmen Nuancen und matten und

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