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„Keine Farbe in der Natur ist — unter den gewöhnlichen
Bedingungen — ohne Abschattierungen. Bemerkt man diese
nicht, so ist nur die eigene Unerfahrenheit daran schuld.
Man erkennt sie jedoch, sobald man sich genügend geübt
hat. Im allgemeinen aber findet man sie sofort."

Mit klaren Worten zeigt er sodann den "Weg, auf der
Leinwand eine schöne Schattierung zu erzielen. Es gilt, die
wechselnde Nuance mit kleinen Strichen wiederzugeben.

„Wenn eine Farbe durch Zusätze einer anderen verstärkt
werden soll, thut man gut (in vielen Fällen wenigstens) die
eine auf die andere zu setzen, und zwar in kräftigen kleinen
Strichen, fein wie Häcksel. Das ist vorteilhafter, als wenn
man einen einzigen einheitlichen Ton ausbreitet, und zwar
aus zwei Gründen: einmal, weil das gleichzeitige Spiel der
zwei Farben reizvoll für das Auge ist und zweitens, weil die
formale Ausdrucksfähigkeit durch eine kluge Anwendung
und Verteilung der tieferen Striche sehr gesteigert werden
kann."

Sind das nicht die prismatisch zerlegten Farben des Neo-
Impressionismus? Aber er fährt noch fort: „Die schönste
Farbe wird durch „Stippling" erreicht." „Stippling" buch-
stäblich übersetzt heifst „Punktieren" („pointillage").

Ruskin gebraucht nun dieses Wort nicht einmal und
zufällig, sondern er widmet ihm ein ganzes Kapitel und be-
titelt dies:

„Zerlegen der Farbe durch Nebeneinander- oder Ueber-
einander-Auftrag" und nennt es das wichtigste aller Ver-
fahren der guten modernen Oel- und Aquarellmalerei.

Mit Berücksichtigung des Abstandes kann man die Wir-
kung eines glücklichen Sujets (sei es nun ein Gehölz, ein
fliefsendes Wasser oder zerrissenes Gewölk) sehr erhöhen
durch das Aufsetzen ganz kleiner, fast trockener Farbfleckchen,
in deren Zwischenstellen dann andere Farben geschickt auf-
zutragen sind. Jemehr man dies, soweit der betreffende Vor-
wurf es fordert, durchführt, umsomehr wird man sich über
die hohen Qualitäten der Farbe freuen. Das Verfahren be-
steht in der bis zum Aeufsersten durchgeführten Anwendung
des Prinzips der Farbenzerlegung und zwar am besten, indem
man Atome von Farben in kleinen Pünktchen aufsetzt, und
nicht in gröfseren Flächen. Will man nun die Farben be-
sonders leuchtend herausbringen, so setze man feste kleine
Punkte und lasse Weifs dazwischen, anstatt die Zwischen-
stellen mit einem matteren Ton der Farbe auszufüllen.

Gelb und orange werden kaum sichtbar, wenn man sie
blafs und in kleinem Umfange aufträgt, sie kommen jedoch,
in festen Strichen gegeben — auch wenn sie noch so klein
sind — zu glänzender Geltung, sobald ein wenig Weifs da-
nebenbleibt."

Man findet diese für den Neo-Impressionisten so un-
schätzbaren Argumente auch in einer sehr durchgearbeiteten
Studie, die Robert de la Sizeranne in der Revue des deux
Mondes (März 1897) über Ruskin veröffentlicht hat.

Die Neo-Impressionisten verwerfen jede dunkle Farbe.
Ruskin sagt:

„Weg mit allem Grau, Schwarz und Braun und all der
Theererei der französischen Landschafter aus der Mitte des
Jahrhunderts; es scheint, als ob sie die Natur in einem
schwarzen Spiegel sähen. Der Ton einer Farbe ist nicht
durch Mischung mit einer dunkleren Farbe zu, verstärken,
sondern durch kräftigeres Auftragen derselben Farbe."

Die Neo-Impressionisten verwerfen alles Mischen auf der
Palette. Ruskin sagt:

„Man mufs seine Palette sauber halten, damit man die
Farben rein sieht und nicht zu Mischungen neigt."

Auf der Leinwand fordert er das Gleiche. Die Bilder der
Neo-Impressionisten sähen zu mosaikartig aus! Ruskin sagt:

„Man mufs die Natur wie ein Mosaikbild aus verschie-
denen Farben betrachten und diese Strich für Strich, jede in
ihrer ganzen Einfachheit nachbilden."

„Man soll also eine Art Fresko machen? Ja, noch besser
aber — Mosaiken!"

Das alles von Ruskin bereits Geforderte steht in so enger
Verwandtschaft mit den Bestrebungen der Neo-Impressio-
nisten, dafs der Referent der Revue des deux Mondes, als er
die Forderungen Ruskins „Pointillisme" nannte, nicht umhin
konnte zu bemerken:

„Ne serait ce pas le pointillisme qui des 1856 se trouve
ici prophetise? C'est lui meme!"

Sind, um zum Schlufs zu kommen, nicht alle diese
Anführungen eine glänzende Rechtfertigung gerade der Mo-
mente, die man dem Neo-Impressionismus am meisten zum
Vorwurf macht: ihre Farbenzerlegung und ihre kleinliche
Strichelei, wie man wohl sagt? Ist nicht ganz besonders das
„Stippling", das der englische Aesthetiker als bestes Mittel an-
giebt, den Glanz und die Harmonie des Bildes zu erhöhen,
ganz genau das, was unsere Farbenzerlegung soll, die so
grofser Opposition begegnet?

Ich schliefse mit einigen Stellen aus dem Buche eines
amerikanischen Gelehrten: O. N. Rood, Theorie scientifique
des couleurs — ein Buch, das der Verfasser, wie er sagt, zu
Nutz und Frommen von Künstlern und Kunstfreunden ge-
schrieben hat.

Er tritt darin in gleicherweise sowohl für die Schattie-
rung als für die Mischung im Auge, als auch für die Punk-
tiermalerei ein, und wundert sich nur, dafs man so wenig von
den Vorzügen dieser Art und Weise weifs.

„Zu den wichtigsten Haupteigenschaften der Farbe in der
Natur gehört ihr fast in's Unendliche gehendes Nüancenspiel.
Ein Blatt Papier auf einem Bilde ganz weifs oder grau ge-
halten, wäre sehr schlecht wiedergegeben; um naturgetreu
zu sein, müfste es mit sehr feinen Clair-obscur-Nuancen ge-
malt werden. Wir denken bei einem Blatt Papier gewöhn-
lich an etwas in durchaus gleichmäfsigerTönung Gehaltenes,
weisen aber, ohne zu zögern, jede Malerei als unwahr zurück,
die ein solches Blatt derart wiederzugeben versuchte. Unsere
natürliche Empfindung ist also unsrer Erziehung weit über-
legen; unser Gedächtnis für derlei Dinge ist immer aufser-
ordentlich fein, während unser Wissen um die Ursache unsrer
Empfindung meist gleich Null ist. Wir erinnern uns ihrer
nicht, weil sie uns niemals klar geworden ist. Es ist Pflicht
des Künstlers, sich über das Warum und über die Ursachen
seiner Empfindungen Rechenschaft zu geben.

Alle grofsen Koloristen schufen aus einer derartigen Em-
pfindung heraus, und ihre Bilder scheinen, aus der gewollten
Entfernung gesehen, gleichsam zu beben, so sehr schillern
und fliefsen ihre Töne in einander über, so dafs es für den

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