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Und während hinter mir am Schmutzaltar

Die Lust, das Fieber schwellen bis zum Sieden,

Hör ich am Fenster deutlich, lauter, klar,

Tief aus der Weltstadt einen Glockenfrieden:
Fis — a — d — fis — a — d — fis — a — d tönt,
Unendlich sabbathrein und abgeschieden.

Das hat die Seele mir verklärt, versöhnt;

Ich schleiche weg und steh bald weit entrückt

Auf einem Berge, der ein Flachland krönt.

Noch hält die Dämmrung jede Sicht erdrückt,
Doch seh enthüllt ich einen Götterbaum,
Der einzig diesen hohen Hügel schmückt.

Dort sitzt, wie tief in Paradiesestraum,
Auf höchstem Zweig gekrallt ein Goldfasan,
Der sich scharf abhebt aus dem Sphärenraum.

Und um die Krone schwebt wie Taumelwahn

Lautlosen Fluges eine Rieseneule,

Schwebt langsam stets rundum in gleicher Bahn.

Und unterm Baum steht starr wie eine Säule
Ein Weib mit grauem Haar, in strenger Haltung,
Gestützt auf eine umgekehrte Keule.

Ihr braun Gewand, antik in der Umfaltung,
Hat feuerroten Saum, zwei Hände breit,
So steht sie wie in eherner Erkaltung.

Nun spricht sie wie aus Undurchdringlichkeit,
Spricht finster, nüchtern, klanglos, monoton,
Und reckt sich und erbebt und prophezeit:

„Ich bin die Weltentrauer in Person,

Des ewigen Wechsels närrische Sibylle,

Ich schenk euch des Vergessens seligen Mohn.

Ihr glaubt an Gott, Gesangbuch und Postille,
Ihr Narren sehnt euch aus der Erdenpein,

Als ob im Jenseits Andres sich enthülle.

Siehst du die Gräber nicht, die Gräberreihn,
Das grofse Trauerspiel von Strand zu Strand.
Grab ist des Grabes endlos Stelldichein.

Euch allen wie den Kälbern eingebrannt
Ist dieses Zeichen: Leb und stirb, du Thor!
Und jenseits herrscht derselbe Unverstand."

Das Weib verstummte. Geisterhaft verlor

Die Eule sich in ferne Leichenzüge,

Die Sonne würgt sich aus dem Nebelflor.

Ich aber jauchzte: Weiche von mir, Lüge!

Doch immer stand das Weib noch unterm Baum,

Als wenn den Schmerz der ganzen Welt sie trüge.

Da schrie ich auf: Ich glaube! Und wie Traum
Schwand sie dahin. Und auch der Goldfasan,
Noch seh ich seiner Schwingen letzten Saum,

Blitzt auf zum Licht. Die Sonne bricht sich Bahn,
Der Nebel sinkt, der Zweifel sinkt, der Spott,
Und vor mir glänzt die Landschaft Canaan:

Da find ich, da erreich ich meinen Gott!

Auf meine Schultern sank des Freundes Haupt,

Er war zu seinem Frieden eingegangen,

Sein letzter Hauch noch sprach: O glaubt, o glaubt!

Grofs lag die Nacht, von Netzen wie behangen,
Nur tief im Osten trug ein schwacher Streifen
Zu immer hellrer Ausdehnung Verlangen.

Schon schirrt Apoll, um durch den Tag zu schweifen,

Die Rosse vor, der goldne Wagen loht,

Bald wird sein Furor nach den Sternen greifen,

Sein Atem glüht, es glüht das Morgenrot.

WILHELM VOLZ

(AUS: MOPSUS)

(I 76 )
 
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