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die Sonne sank und das Sterben eines Tages währte — hatte er als Unrecht
gefühlt, das ihr angethan worden.

Und ein anderer Abend, der schon am nächsten Morgen wie ein Traum
verblassend zurückgewichen war vor klaren Gedanken, die nach ihm greifen
wollten. Irgendwo, in flachem Land, ein Dorf, in dem er übernachten mufste;
den Namen hatte er vergessen, und er wufste nicht mehr, was ihn damals
hingeführt hatte. Die Leute in den niedern weifsen Häusern waren schlafen
gegangen, bevor es noch Nacht geworden. In der Dämmerung war er über
die letzten Häuser hinausgegangen, bis an das seichte versandete Ufer des Sees,
der sich weiter dehnte, als man sah. Unter seinen Füfsen wich haltlos grauer
Sand, fast wie trägeres und dichteres Wasser. Er trug nichts in seinen Händen,
und fühlte ihre Leere, wie man sonst Dinge fühlt, die man hält. Er suchte
wonach er greifen könne; aber nichts wuchs hier — auch nicht Schilf — und
er tastete leise an seine eigenen Augen und Wangen. Dann bückte er sich,
schöpfte eine Hand voll Sand, und fühlte ihn langsam zwischen seinen Fingern
sickern, bis seine Hand leer war. Er bückte sich wieder; nun aber war es
Wasser, das rascher durch seine Finger lief. Er stand still und sah auf den
See, der nicht mehr spiegelte und nur Dunkelheit schien, die weithin wuchs,
bis zu schmalen helleren Streifen, die Wolken waren — flüchtiger und ver-
rinnender als Wasser und Sand. Dann wandte er sich und merkte, dafs etwas
neben ihm aus dem Sand ragte. Nur die Umrisse erkannte er im Dunkel;
es schien eine Pflanze mit kleinen verkümmerten Blättern, die hart an dem
unverästelten hohen Stiel safsen; die dunkle Masse ganz oben war wol eine
Blüte. Er neigte sich über sie. Ein leichter Duft hob sich ihm aus dem
Kelch entgegen. Da wufste er — aber kein Wissen, in Worte oder Gedanken
zu fassen, war es, wie ein fallender Stern leuchtend über den Nachthimmel
hinschwindet, durchflog es ihn — dafs er allein war; er und Alles. Keine Brücken
führten von ihm zum Duft der Pflanzen, zum stummen Blick der Tiere, und
zur Flamme die nach oben lechzte, und zum Wasser das zur Tiefe wollte,
und zur Erde, immer bereit, Alles zu verschlingen und Alles wieder von
sich zu speien. Und Blicke, und Worte, und erratene Gedanken der Menschen
waren lügnerische Brücken, die nicht trugen. Hilflos und Niemandem helfend,
einsam nebeneinander, lebte sich ein Jedes unverstanden, stumm zu Tode.

Für den, der jetzt dalag und litt, war dies Alles als er es lebte wenig
gewesen. Der graue Schutt gleichverrinnender Tage hatte es bedeckt und
verborgen. Wie Kostbarkeiten, in verschütteten Schatzhäusern geflohener Könige,
hatte es lange geruht, bis Georgs Worte es gehoben. Vorher hatte es wenig
bedeutet: Ein Duft in der Nacht, das Verhallen einer Stimme, Wasser das
verrann, und ein Schatten um Mittag. Mutter — Jugend — Liebe — Er-
kenntnis — hiefs es jetzt, und war genug, ein ganzes Leben reich zu erfüllen.
Heifs und süfs und duftend wie ein Schlaftrunk, bot sich dem Sterbenden
dies Alles; und sie standen da, diese Dinge, mit offenen Augen, ihr Antlitz ihm
zugewandt, als hätten die letzten Stunden sie mit ihrem wahren Namen angerufen.

----------------------- Richard Beer-Hofmann

C 91 I) \2*
 
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