Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
vor den kalten, unerbittlichen Augen, „die nur Kampf und
Seelennot, nie Trost und Sieg verkünden", machtlos nieder.
Der Eine endet durch Selbstmord und der Andere, anschei-
nend Sieger, bleibt innerlich gebrochen. „Es giebt Zeiten,
die mehr als andere in das hoffnungslose Elend versinken,
das Schlechte zu sehen, und so lange Niemand der Medusa
den Kopf abhauen will, sind es die Besten unter uns, die in
Erwartung des Befreiers um den Palast der Gorgo Versteine-
rungen bilden", läfst er einen jungen Dichter sagen. Der
Aufbau des Romans ist etwas schwerfällig, doch die Fülle
der Gedanken reifst unaufhaltsam, auch über mühsam zu
Worte Gebrachtes fort.

Eine andere Uebergangsnatur, ein Schilderer seelischer
Krankheitsprozesse, die durch den Adel reinster Poesie ver-
klärt werden, ist Ola Hansson. Er singt in schlichten,
ergreifenden Herzenstönen die unendliche Skala menschlichen
Leides tiefen Seelenleides, wie es Naturen mit reichem Innen-
leben und wunderbar zart organisiertem Empfinden im Kontakt
mit gröberen Organismen zu durchkämpfen haben: Sensitiva
amorosa, Parias, Heimreise, Meeresvögel u. a., lauter Deka-
denzmotive, banges Erlahmen des Willens vor dem rauhen
Griff des Lebens. Bisweilen nur schildert er stille Resignation,
die nicht als völliges Gebrochensein, sondern ais tapferes inneres
Aufraffen erscheint: „Esther Bruce".

*

Das Ende des naturalistischen Romans verkündeten 1806
Oskar Levertin und Werner von Heidenstam durch
eine von ihnen selbst verfafste und zugleich kritisch zer-
pflückte Novelle: „Die Heirat Pepitas, der Cigarrenarbeitenn".
Beide sagten aus, was sich jedem Kenner des schwedischen
Charakters und der schwedischen Literatur von selbst auf-
drängt: Der Naturalismus konnte nie in Schweden feste
Wurzeln fassen. Weder Temperament noch Überzeugungen
befähigten seine Dichter dazu und ihr zum Reflektieren ge-
neigte^ Geist konnte sich auf die Dauer nicht mit dem Greif-
baren begnügen, er mufste ins Unbegreifliche hinuber-
schweifen Und weiter liegt in all den Dichtern und Denkern
ein aristokratischer Zug, der nicht der von blinden Instinkten
geleiteten Masse, sondern dem isolierten Einzelwesen seine
Sympathien schenkt. Was ist Jvar Lyth, der arme Arbeiter
anders, als ein Aristokrat unter semen rohen Genossen!
Franzosen und Russen steigen gern zu ihren Brüdern im
Leid herab und machen sich mit ihnen gemein. So weit
sich unsere Beurteilung erstreckt, lösen die schwedischen
Dichter den leidenden Bruder von seinem Milieu los und

ziehen ihn zu sich empor.

Der als hochbegabter lyrischer Dichter längst gereierte
Oskar Levertin machte nach dieser kritischen That einen
Ausflug ins psychologische Gebiet. Sein Roman „Die Feinde
des Lebens" steht den besten Sachen von Rod und Bourget
würdig zur Seite. Es ist die Geschichte eines talentvollen
Journalisten, einer verfeinerten, enthusiastischen Natur, der
seine besten Kräfte für edle Ziele einsetzt und sich doch
täglich an tausenderlei kleinlichen Miseren in seiner engsten
Umgebung reibt, bis er, vom stetigen Kampfe in der erhitzten
Zeitungsatmosphäre krankhaft überreizt, dem Verfolgungs-
wahnsinn anheimfällt und ein tragisches Ende findet. Rührend
ist die Braut des unglücklichen Otto Imhoff gezeichnet: eine

ganz germanische Gestalt mit ebensoviel Verstand als Herz,
voll Selbstverleugnung, Aufopferungsfähigkeit, der ihre treue
Liebe stets das Rechte eingiebt.

Werner von Heidenstam entwickelte sich anders.
Er wählte sich das philosophisch-allegorische Gebiet. Mit
glühender Phantasie entwirft er Bilder alter versunkener
Kulturperioden und predigt nach einander den Kultus der
Lebensfreude, des Schönen, der Wissenschaft („Endymion"),
um schliefslich (in „Hans Alienus") hinter allem eine grofse
Leere zu entdecken, die sich des Helden und begeisterten
Jüngers dieser herrlichen Dinge bemächtigt. Uebersättigt flieht
Hans Alienus freudlos und hoffnungslos in die Wüste. Dort
hat er eine seltsame Vision: Er begegnet Jesus und Dionysos.
Um sie herum schreien Welten nach Glück, nach Erlösung
vom Leid; „Sie können nicht warten, bis sich die Zeit er-
füllt hat — spricht Jesus. Sie vermeinen sich, vermöge ihrer
Weisheit, bis zu einem Glück erheben zu können, das aufser-
halb ihrer Sphäre liegt." — „Ich will ihnen wenigstens
zeigen, wie sie warten können!" ruft Dionysos aus und
schenkt ihnen die Lebensfreude. Als Jesus nach langen Jahren
wieder auf die Erde zurückkehrt, findet er die Menschen
elender als zuvor — aus dem Freudentaumel ist nur neues
Elend erwachsen. Er weint blutige Thränen über die leidende
Menschheit und als diese sein göttliches Mitleid empfindet,
glaubt sie daran, das die wahre Freude nur aus Thränen ge-
boren werden kann. Des Lebens Ziel ist: Christus zu gleichen,
Demut zu üben und die Menschen zu lieben, wie er sie geliebt
hat — nur die Barmherzigkeit verleiht den wahren Frieden
des Herzens.

Eine junge Schule, die sich in psychologischer Analyse,
philosophischer Allegorie und Symbolismus versucht, ist im
Werden; sie ist wegen ihres ruhelosen Forschens nach der
Seele der Dinge den neu-idealistischen Strömungen einzu-
reihen. Unter den Jungen sind viele Namen von gutem Klang,
wie Ernst Ahlgren, Nordenswan, Alfhild Agrell,
Anna Wahlenberg, bei denen der Realismus noch über-
wiegt, ferner Tor Hedberg (dessen Roman „Judas" Auf-
sehen erregte), Axel Lundegard, Beckström, Sigurd
Snorre u. a., deren Werke mehr spiritualistische und idea-
listische Tendenzen zeigen. Ein paar selten begabte Dichter-
naturen überragen sie meilenweit: Per Hallström und
Selma Lagerlöf. Ersterer, ein Meister der Form in Poesie
und Prosa umfafst in den fünf Bänden, die er veröffentlichte:
„Lyrik och fantasier", „Vilsna faglar", „Purpur", „En gammal
historia", „Briljants myket" alle Zeiten und alle Welten mit
dichterischem Seherblick; aus Freud und Leid reiht er Perle
an Perle, wo er sie findet, und alles gilt von ihm, was früher zur
Charakteristik des schwedischen Temperaments gesagt wurde.

Vollkraft, Eigenart, Frische, packende Grofsartigkeit,
Urväter-Heroismus, toller Lebensgenufs und unheimliche
Phantastik nordischer Natur-Mythen —- alles das sprudelt
aus „Selma Lagerlöfs „Gösta-Berling-Saga" hervor. Mit
diesen Erzählungen aus dem alten Wermland hat die Ver-
fasserin, ein junges Mädchen, gezeigt, dafs die Zunft der
fahrenden Sänger, die singen wie der Vogel singt von allem,
was Menschenbrust durchjubelt und durchklagt, noch nicht
ausgestorben ist.

A. Brunnemann

C 127 D
 
Annotationen