FUENF FREUNDESBRIEFE
VON
FRIEDRICH NIETZSCHE
AN HERRN OBERREGIERUNGSRAT GUSTAV KRUG
(Frühjahr 1882. Genua.) Februar.
Lieber Freund.
Mit Deinen Liedern gieng es mir seltsam. Eines
schönen Nachmittags fiel mir Deine ganze Musik
und Musikalität ein und ich fragte mich schliefs-
lich: Warum läfst er nie etwas drucken? Dabei
klangen mir die Ohren von einer Zeile aus Jung
Niklas. Am nächsten Morgen kam Freund R. in
Genua an und überbrachte mir Dein erstes Heft,
und als ich es aufschlug, fiel mir gleich Jung Niklas
in die Augen. Das wäre eine Geschichte für die
Herren Spiritisten! — Deine Musik hat Tugenden,
die jetzt selten sind — : ich sehe mir jetzt alle
neue Musik auf die immer gröfser werdende Ver-
kümmerung des melodischen Sinns an. Die Melo-
die, als die letzte und sublimste Kunst der Kunst,
hat Gesetze der Logik, welche unsere Anarchisten
als Sklaverei verschreien möchten —: gewifs ist
mir nur, dafs sie bis zu diesen süfsesten und reich-
sten Früchten nicht hinauflangen können. Ich
empfehle allen Componisten die lieblichste aller
Askesen: für eine Zeit die Harmonie als nicht er-
funden zu betrachten und sich Sammlungen von
reinen Melodieen, zum Beispiel aus Beethoven
und Chopin, anzulegen. — In Deiner Musik klingt
mir viel gute Vergangenheit und wie Du siehst
auch etwas von Zukunft. Ich danke Dir von ganzem
Herzen.
Dein Freund
F. N.
STAUFl-'ER-BERN, KN
CNABB MIT VVEINGEFÄSS
d 167 I)
22
VON
FRIEDRICH NIETZSCHE
AN HERRN OBERREGIERUNGSRAT GUSTAV KRUG
(Frühjahr 1882. Genua.) Februar.
Lieber Freund.
Mit Deinen Liedern gieng es mir seltsam. Eines
schönen Nachmittags fiel mir Deine ganze Musik
und Musikalität ein und ich fragte mich schliefs-
lich: Warum läfst er nie etwas drucken? Dabei
klangen mir die Ohren von einer Zeile aus Jung
Niklas. Am nächsten Morgen kam Freund R. in
Genua an und überbrachte mir Dein erstes Heft,
und als ich es aufschlug, fiel mir gleich Jung Niklas
in die Augen. Das wäre eine Geschichte für die
Herren Spiritisten! — Deine Musik hat Tugenden,
die jetzt selten sind — : ich sehe mir jetzt alle
neue Musik auf die immer gröfser werdende Ver-
kümmerung des melodischen Sinns an. Die Melo-
die, als die letzte und sublimste Kunst der Kunst,
hat Gesetze der Logik, welche unsere Anarchisten
als Sklaverei verschreien möchten —: gewifs ist
mir nur, dafs sie bis zu diesen süfsesten und reich-
sten Früchten nicht hinauflangen können. Ich
empfehle allen Componisten die lieblichste aller
Askesen: für eine Zeit die Harmonie als nicht er-
funden zu betrachten und sich Sammlungen von
reinen Melodieen, zum Beispiel aus Beethoven
und Chopin, anzulegen. — In Deiner Musik klingt
mir viel gute Vergangenheit und wie Du siehst
auch etwas von Zukunft. Ich danke Dir von ganzem
Herzen.
Dein Freund
F. N.
STAUFl-'ER-BERN, KN
CNABB MIT VVEINGEFÄSS
d 167 I)
22