FELIX HOLLENBERG, BIRKENWALD
GRUNDFORMEN DER KUNST
EINE PSYCHOLOGISCHE STUDIE
WENN man ein "Werk aus dem Gebiet unmittelbarster,
unabgeleitetster Kunstform, zum Beispiel ein Gedicht
einfacher Lyrik, auf die Bestandteile seiner seelischen Ent-
stehung hin liest, so glaubt man zunächst nur mit zwei Faktoren
rechnen zu müssen: nämlich mit dem, in der Kunst diesem
Gedicht zu Grunde liegenden, GefühlsstofFund mit der dichte-
rischen Technik, die ihm zum lyrischen Ausdruck verhalf. Und
der steigende Unterschied zwischen der primitivem und der
kulturell mehr und mehr entwickelten Kunst scheint dem-
nach darin zu liegen, dafs anfangs die emotionellen Bestand-
teile sich naiver ausströmen, stofflich naiv genossen werden,
während später die Kunstform den Kunstinhalt immer strenger
besiegt, bis endlich die künstlerisch-technische Prägung ganz
in den Vordergrund tritt, und der stoffliche Gefühlsanlafs das
Interesse garnicht mehr durch sich selbst absorbiert. Am ein-
leuchtendsten, und deshalb am häufigsten bemerkt, ist dieser
Vorgang gegenüber den Erzeugnissen der bildenden Künste,
indem wir ohne weiteres einzuräumen pflegen, dafs etwa ein
gemaltes Fruchtstillleben uns nicht durch den Anblick seiner
Aepfel und Trauben zum Appetit, ein gemalter Akt uns nicht
zur Unruhe der Sinne reizen soll, sondern in beiden Fällen
die Ausführung in Linien und Farben uns rein ästhetischen
Genufs zu vermitteln hat.
Sieht man aber genauer zu, so verhält es sich auch schon
auf diesem abgeleitetern Gebiete bildender Kunst, geschweige
denn auf dem der Lyrik, mit dem Ueberwiegen des tech-
nischen Interesses über das emotionelle wesentlich anders, als
man so annimmt. Denn seinen Stoff entnimmt der Maler des
Fruchtstilllebens oder des Aktes wohl der äussern Welt
äusserer Sensationen, aber wenn diese aus seinem Bilde nicht
stofflich herauswirken, sondern mit Hilfe seines technischen
Könnens vielmehr gleichsam umgebracht werden, — so liegt
das nur daran, dafs es durchaus nicht diese Sensationen sind,
die ihn zur Wahl seines Stoffes getrieben haben, sondern eben
ganz andre Gefühle leisester und intimster Natur, — Ge-
fühle, die er nicht anders schildern kann als kraft der vagen
Farben- und Linienphantasien, mit denen sie sich verbinden,
oder unter deren Hülle allein sie auftauchen. Diese Heimlich-
keiten in der Seele des Künstlers sind deshalb so unaus-
sprechbar, weil sie ein ganz embryonales Dasein führen, ehe die
Kunst sie ans Licht des Tages hinanführt, — -weil sie Gefühle re-
präsentieren, entweder im Stadium des dunkeln ersten unklaren
Aufkeimens, oder aber ins Dunkel zurückgesunkene Gefühls-
elemente, die schattenhaft und reminiscenzenhaft in die Gegen-
wart hineinwirken, oder endlich weil sie aufsteigen aus der
breiten wellenhaften Masse unbestimmter Allgemeingefühle,
die sich nicht recht individuell fassen lassen, aber doch durch
das Individuum erregend hindurchfluten. Den Künstler vom
Nichtkünstler unterscheidet nun ganz fundamental der Um-
stand, dafs seine Sensations-Embryos sozusagen nicht zu Ende
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