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der Lehren über das Wesen des Künstlerischen. Und noch
mehr gilt das vom geniefsenden Beschauer der Kunstwerke,
vom Publikum in jedem Sinn, dafs sie erst allmählich richtig
einsehen lernen, um was es sich bei dem künstlerischen Er-
eignis handelt, und wie sie sich dazu zu verhalten haben, denn
alle diese müssen ja erst durch lange und wiederholte Er-
fahrungen ein wenig hinter den heimlichen Genufs des Schaf-
fenden kommen, um ihm dann zu ihrer eigenen Beseligung
erfolgreicher nachzutasten. Beherrscht sie anfangs der ge-
schaute oder vernommene Stoff als Alleinzweck, so unter-
wirft später ihr gereiftes Verständnis ihn als blofses Mittel
dem Kunstzweck, und endlich, zum Schlufs dieser kulturellen
Entwicklung, kommt es meist dahin, dafs am Kunstzweck
wiederum nur noch die technischen Mittel interessieren, die
anläfslich seiner zur Anwendung kamen; dann scheint das
Publikum durch seine über das Laienhafte ganz hinausgelangte
Kunstschulung dem Künstler am nächsten zu stehen, und ist
doch genau so weit von dem entfernt, was ihn bewegt, wie
im ersten Anfang. Denn war es im Anfang noch nicht ge-
nügend zu individuellem vollem Seelenleben erwacht, um
irgend etwas im Kunstwerk wahrzunehmen, aufser einer auf-
reizenden Nachahmung eines beliebigen Stoffes, so ist jetzt
seine seelische Spannkraft und Regsamkeit schon zu erschlafft,
zu müde, um nachschaffen zu können, was der Künstler aus
seiner Fülle schuf, und hält sich darum an die Einzelzüge
der gegebenen Aufsenform.

Zwischen diesen beiden Polen pendelt nicht nur das
Kunstverständnis der Menschen hin und her, sondern auch
die verschiedenen Kunstrichtungen selbst thun es, die ja nichts
andres sind als ein Niederschlag des Denkens und Fühlens
der Menschen einer Zeitepoche und den Künstlern als solchen
nur soweit entstammen, als auch diese aufserhalb ihres
Schaffens auf das Geistesniveau der übrigen Menschen mit-
gehören. Wie eine logisch richtig gelenkte und beeinflufste
Aufmerksamkeit für das Kunstverständnis wichtig sein kann,
so reflektiert andererseits jede, ob selbst noch so abstrakt ge-
wonnene oder ausgedrückte, Auffassung der Kunst zugleich
etwas vom psychischen Gepräge einer Zeit, etwas von den
innern Kämpfen, Siegen und Niederlagen ihrer Menschen.

Heutzutage ist es ganz besonders interessant, sich unter
den herumfliegenden Schlagwörtern der verschiedenen Kunst-
richtungen umzuthun, weil sie sich zum gröfsten Teil doch
nicht mehr an eine abstrakte Schuldoktrin halten und also
viel weniger vermummt wie die selig verstorbenen ästhetisch-
metaphysischen Systeme von ehemals, uns ihr menschliches
Antlitz verraten. Hier und da treffen sie auch mit ihren stark
gefärbten, zusammenfassenden Bezeichnungen sehr glücklich
eine ganze Gruppe von psychischen Zeiterscheinungen, die
sich künstlerisch aussprechen wollen, wie zum Beispiel mit
dem viel mifsbrauchten und mifsverstandenen Begriff der
Dekadenz-Kunst. Alles mögliche ist wohl fälschlich so be-
nannt worden oder hat sich selbst aus irgend welchen Gründen
so benannt, in Wirklichkeit jedoch läfst sich etwas sehr Be-
stimmtes und Thatsächliches durch dieses Wort klärend be-
leuchten, nämlich ein am Ende langer Kulturverfeinerung
eingetretener seelischer Erschöpfungszustand, der den hohen
und positiven Wert besitzt, sich mit ganz köstlichem tech-
nischen Raffinement künstlerisch zum Ausdruck zu bringen.
Was auf der Grenze der Erschöpfung steht, wird natur-
gemäfs sich gern abseits von allen starken Berührungen mit

dem Leben halten, und wird am liebsten jene leisesten und
feinsten Nuancen an sich belauschen, die schon durch das
allerschwächste Vorüberstreifen des Lebens genügend zum
Erzittern gebracht werden, um einem Kunstwerk zur Basis
zu dienen. Dagegen ist garnichts einzuwenden und gewifs
kann auf diese Weise das künstlerisch Höchste entstehn, ge-
wifs kann in der dazu nötigen Treibhausstille eines solchen
Abseits manche Offenbarung erblühen, die sich sonst nie ans
Licht gewagt hat. Dafür giebt es besonders französische
Proben der Lyrik mustergiltiger Art, — wo sie in Deutsch-
land überhand nehmen, sieht man ihnen bedenklich leicht
das Experiment mit dem eigenen Hirn und Herzen an und
was dabei herauskommt ist keine seltene Treibhausblüte,
keine künstlich gezogene, sondern eine künstlich hergestellte,
ohne organisches Leben. Für den wahren Dekadenten ist
die dekadente Art der Kunstäufserung, falls er ein entsprechend
grofser Künstler ist, eine ebenso natürliche, wie für einen
geborenen Schiffer der Kampf mit Meer und Wellen, und
sogar wenn er archaisierend ganz in dem Gefühlsmilieu ver-
gangener Zeiten sich ergeht und seinen eigenen Gefühlen
dessen Kostüm überzieht, so schafft er sich damit nur die
ihm notwendig gewordene weite Distanz von den Dingen,
um nicht bei ihrer künstlerischen Berührung von ihnen ver-
letzt und dadurch auch aus der schöpferischen Verfassung
gerissen zu werden. Keine Frage, dals Dekadenz-Perioden,
wo sie nicht vielleicht nur Uebergänge, heimliche Seelen-
rekonvalescenzen sind, allmählich mit dem seelischen Schlaf
und Tode enden müssen, aber solange sie überhaupt Talente
ihr eigen nennen, können sie bis hinein in die ersten däm-
mernden Träume des Entschlummerns, der Kunst ihre zartesten
Lieder singen.

Ist gegenüber der französischen Lyrik die deutsche auf
diesem Boden steril und gekünstelt, so erwächst ihr dafür
seit der Beseitigung des Realismus und Naturalismus ein
neuer Frühling, der leicht mit der Dekadenz-Poesie verwechselt
wird, weil seine noch zarten Hälmchen und jungen Blüten
ebenso sturmscheu sind, wie das fallende Septemberlaub.
Sich vor den Lebensstürmen abseits zu bergen, und die leisen,
feinen Regungen der Seele auf Kosten der lautern und stär-
keren zu verherrlichen, kann nämlich gerade so gut einem
jung aufkeimenden Leben, das seiner Kraft erst entgegen-
schwillt, zu eigen sein, wie dem alternden, kraftmüde nach
innen gekehrten. In heutiger Zeit wenden sich Viele, und
nicht die Schlechtesten, vom ganzen äufsern Lebensgetriebe
ab und verschmähen es sogar als blofsen Anlafs, um sich
daran persönlich zu bethätigen und auszuleben, weil sie sich
durch die gesamten Kulturverhältnisse, in denen wir leben,
im Besten ihres individuellsten Wesens bedrängt und beraubt
fühlen, — wie also sollten insbesondere Künstlernaturen es
anders fühlen? Es ist ein Suchen und Langen nach Einsam-
keit in den vorgeschrittensten Menschen, in Allen, die etwas
in sich tragen, was nicht auf dem Markt geboren werden
kann, in Allen, die in sich Hoffnung und Zukunft tragen
und heimlich fürchten, dass ihnen diese entheiligt werden
könnten. Sie wissen wohl, dass aus dem vollen Kontakt
mit der ganzen Breite und Tiefe des wirklichen Lebens die
grofsen Werke entspringen, die mit ehernen Siegerschritten
und klingendem Spiel über die Erde gehen, Jahrhundert um
Jahrhundert, aber bis dahin — das wissen sie auch — müssen
noch viele andere, stillere Werke ihnen voranschreiten in

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