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i66o! Es wäre eine sehr lehrreiche Arbeit, diese Verände-
rungen der Farbenempfindung, die sich in Neigung und Vorliebe
äufsert, durch die Jahrhunderte und durch die Entwicklung
der leitenden künstlerischen Persönlichkeiten zu verfolgen.
Wer wird uns solche koloristische Studien über Rembrandt,
Rubens, Tizian, Holbein schaffen? Wer wird die Ursachen
der Wandlungen aufzudecken versuchen?

lieber die Beeinflussung des Farbensinns durch örtliche
Zustände sind wir noch nicht genügend unterrichtet. Wir
wissen nur ganz allgemein, dafs die Phänomene der Farben
in Venedig nicht dieselben sind, wie in Florenz, in London und
Amsterdam, und in Paris und Berlin von einander abweichen.
Der Feuchtigkeitsgrad der Luft, der Stand der Sonne, die
unendlich kleinen Staubteilchen, die die mechanische Wirkung
des Lichts von den Körpern loslöst, und die in der Atmo-
sphäre eines Kalkgebirges anders das Licht brechen als in der
einer Granitformation oder am Salzmeer, bedingen sehr grofse
Unterschiede. Ein Abendhimmel in Venedig sieht anders
aus als einer in Paris, das Pariser Abendrot kann nicht mit
dem von Berlin verwechselt werden, die Lichterscheinungen
um Sonnenuntergang in Berlin und Potsdam sind schon merk-
lich verschieden, von Berlin und Hamburg nicht zu reden.
Alle diese lokalen Unterschiede der objektiven Phänomene
verursachen eine verschiedene Gewöhnung des Auges. Farbe
mufs deshalb für das in Paris gebildete Auge etwas anderes
sein als für das von Amsterdam oder Florenz. Ein Nord-
deutscher Maler, der längere Zeit in Italien gelebt hat, pflegt
den Ton und die Farbe der heimatlichen Landschaft Jahr-
zehnte lang nicht mehr treffen zu können.

Wie durch die lokale Gewöhnung kann die Empfindung
auch durch die Stimmung beeinflufst werden, die ein be-
sonders begabtes Individuum verbreitet. Giorgione und
Rubens, Rembrandt, Manet haben ihre ganze Umgebung zeit-
weise auf ihre Bahnen mitgerissen. Der Einflufs dieser
genialen Augen, bei ihren Zeitgenossen wohlthätig und er-
höhend, pflegt noch in späteren Epochen durch das Vehikel
des Akademismus periodisch wieder wirksam zu werden.
Die koloristische Bewegung des neunzehnten Jahrhunderts
begann fast überall mit der Nachahmung von Vorbildern
aus vergangenen Epochen. Aber wer im neunzehnten Jahr-
hundert sein Auge auf die Farbe Tizians, Rubens oder Rem-
brandts einstellte, kam zu einem wesentlich andern Resultat
als einer von ihren Schülern, die in ihrer Werkstätte
arbeiteten. Bei diesen, die mit ihrem Meister auf demselben
Boden der koloristischen Lokal- und Zeitempfindung standen,
ist der Fall nicht selten, dafs eins ihrer Bilder dem beglaubigten
des Führers zum Verwechseln nahe steht. Der einer spätem
Epoche angehörende Nachahmer hat dies nie erreicht. Wohl
aber stellt sich bei der Nachahmung der Farbe vergangener
Zeiten gesetzmäfsig ein anderes Resultat ein: die originelle
und selbständige Empfindung für Farbe erlischt. Dies trifft
so gut den Akademieprofessor wie den Musterzeichner.

Und was für die Seele des Einzelnen gilt, hat auch Ge-
walt über die Kollektivseele des Volkes. Sowie es die
Produktion aus der eigenen Empfindung aufgiebt, sowie es
sich begnügt, die fertigen Resultate aus einer älteren Epoche
oder aus einer Nachbarkultur zu übernehmen und mit dem
fremden Kalbe zu pflügen, verkümmert das eingeborene

Vermögen.

Was sich auf dem Wege der Nachahmung erreichen

läfst, bleibt in jedem Falle hinter dem Vorbild zurück, denn
es erfordert nicht dasselbe Quantum Energie.

Es giebt Völker, bei denen Jahrhunderte lang alle kolo-
ristischen Begabungen, Genies und Talente, verkümmern,
weil ein stärkerer Nachbar durch die blofse Thatsache einer
grofsen selbständigen Produktion in weitem Umkreis die
momentan Schwächeren in seinen Bann zwingt. Und es ist
nicht nötig, Beispiele anzuführen, dafs Epochen höchster
künstlerischer Energie noch aus verfallenem Grabe heraus
die Schöpferkraft späterer Geschlechter lahm zu legen im
Stande sind.

Aus derartigen Beobachtungen ergiebt sich, dafs jeder,
der über Farbe urteilen will, sich zunächst klar zu werden
hat, wie weit der natürliche Apparat seines Auges überhaupt
fähig ist, Farbe wahrzunehmen, und wie weit die Erziehung
der angeborenen Empfindung ihn zum Urteil befähigt. Wir
erleben es alle Tage, dafs unerzogene Augen, deren Träger
sich über alle Voraussetzungen im Unklaren befinden, über
koloristische Leistungen begabter und erzogener Augen mit
der gröfsten Sicherheit aburteilen. Pfui, die grasgrüne Wiese,
wurde vor einem modernen Bilde aus dem Munde eines Aus-
stellungsbesuchers gehört.

Wenn die Grundlagen für eine rationelle Erziehung des
Farbensinnes gesucht werden sollen, so ist von der Erkenntnis
auszugehen, dafs das Ziel nicht in der mechanischen Be-
wältigung eines Lehrganges, sondern in der Befähigung zu
geniefsen liegt, nicht in der Mitteilung eines Lernstoffes,
sondern in der Entwicklung einer Kraft.

Damit ist auch schon die Frage erledigt, wann die Er-
ziehung zu beginnen hat. Der Zeitpunkt ist gekommen, so-
wie die Kraft sich regt, also schon in den ersten Schuljahren.

Es liefse sich ohne Schwierigkeit ein folgerichtiger Lehr-
gang aufstellen. Aber dies wäre, wie die Dinge heute liegen,
ein Schlag ins Wasser. Dafs etwa in den Lehrplan unserer
Schulen die Erziehung des Farbensinnes als neuer Unterrichts-
gegenstand eingeführt werden könnte, wird niemand für mög-
lich halten, denn es würde einen Bruch mit aller Tradition
bedeuten, und wo wäre das Lehrermaterial zu finden? Ebenso-
wenig läfst es sich vorstellen, dafs im Hause nach einem
folgerichtigen, stufenweis aufsteigenden Plane erzogen werden
könnte.

Was sich heute thun läfst, bleibt auf die Angabe der
Punkte beschränkt, wo in Schule und Haus sich Gelegenheit
bietet, eine nachhaltige und wirksame Anregung zu geben,
die in erster Linie von den koloristisch begabten Augen ver-
arbeitet wird. Diese Begabungen zum Bewufstsein ihrer
Kraft zu bringen, ihnen die Mittel zur Ausbildung zu weisen,
mufs das erste Ziel sein. Jede dieser Begabungen wird in
kurzer Zeit auf ihre Umgebung zu wirken beginnen, und
damit ist das Beste erreicht. Es kommt dabei nicht nur auf
die produktiven Begabungen an, sondern ebensosehr auf die
zahllosen feinorganisierten Augen, die nur zu empfangen
und zu geniefsen bestimmt sind, die eigentlichen Träger des
Geschmacks. Diese kommen heute in Deutschland schlecht
weg. Selten nur gelangen sie zur Selbsterkenntnis, bei
Männern fast nie. In Deutschland schämt sich heute der
Mann jeder ästhetischen Neigung. Sie erscheint ihm unter
seiner Würde, wenn er sie fühlt, verbirgt er sie und läfst
sie nur beim weiblichen Geschlecht gelten. Kaum erst in

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