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"Was sich ändert, ist ihre praktische Bedeutung, unsere
materielle Stellung zu ihr; die Antwort auf die Frage: willst
du mich besitzen, kannst du mich brauchen?

Und dieser Gesichtspunkt entscheidet unsere, der Special-
raffinements übersatten, nach Gesamtharmonie dürstenden
Sinne für Minne, für dieses herrliche Denkmal der Ruhe
und des Friedens.

In seiner Art oder zum mindesten in der Potenz dieser
Art steht Minne in der modernen Skulptur allein. Es ist un-
übersehbar, was uns die Entwicklung in dieser Richtung noch
bescheren kann. Gegenwärtig befindet sich in den Nieder-
landen nur der erwähnte Holländer Zijl auf gleichem Pfade.
Ihm ist es durch seine Zusammenarbeit mit dem Amster-
damer Architekten Berlage, von der die „Dekorative Kunst"
in ihrem zweiten Heft Proben brachte, bereits gelungen, seiner
Kunst unmittelbare Anwendung zur Schmückung der Archi-
tektur zu geben. Auch Zijl ist von der Gotik stark beein-
flufst und folgt daneben den Tendenzen der gesamten
holländischen Schule, die nach einer Vermischung mit den
Elementen der orientalischen Kunst, zumal der indischen und
altägyptischen, streben. Auch hier ist es die Sehnsucht nach
einer starken Monumentaltradition, die diese Künstler be-
wundernd vor der starren, geheimnisvollen Ruhe ägyptischer
Götzenbilder verweilen läfst; sie finden in den grandiosen
Umrissen dieser uralten Monumente die Befriedigung neuer
künstlerischer Bedürfnisse. Zijls erste Arbeiten waren nicht
von der Roheit des Revolutionärs frei; aber sie zeigten zugleich
neben starker Persönlichkeit, vortrefflich, wie sehr der Künstler
von der Notwendigkeit der
Fernwirkung ornamentaler
Skulptur überzeugt war. In
kleineren Broncestatuetten be-
wies er zugleich, dafs sich
hinter dem, durchaus primi-
tiven Anschein seines Künstler-
tums ein überraschender Reich-
tum von Formen verbarg. Die
holländische Zeitschrift „Bo-
wen Sierkunst" hat davon in
ihrem zweiten Heft sehr schöne
Proben gegeben.

In Frankreich hat Gauguin
eine Zeit lang dieser Kunst
beigesteuert. Doch geschah
es bei ihm, dem Maler, mehr
nebenbei, um das auszudrücken,
wozu ihm die Malerei die
Mittel versagte. Auch er ent-
lehnte die Konvenienz seiner

Skulpturen dem Orient; man findet in seinen wenigen
Statuetten die Vorliebe für Tahiti wieder, die seiner Malerei
die Richtung gegeben hat. Auch bei ihm war diese Tendenz
keine exotische Laune, sondern die zur That gewordene Er-
kenntnis der Unzulänglichkeit moderner europäischer Kunst
für dekorative "Wirkungen. Ihm folgte Lacombe in Ver-
sailles, der in einer Reihe sehr interessanter Holzschnitzereien
die rein ornamentale Seite der Skulptur zu erweitern im Be-
griff steht.

In Norwegen und Schweden sind ähnliche Versuche an
der Hand der alten Tradition Skandinaviens erkennbar; ich
erwähne nur "Willumsen und Hansen-Jacobsen, von denen
der letztere bereits unmittelbar verwertbare architektonische
Schmuckdetails gemacht hat, die die „Dekorative Kunst" in
ihrem diesjährigen sechsten Heft publiciert hat.

Deutschland macht eine Ausnahme. Auch hier haben
sich Bildhauer von grofser Begabung auf die uralte Aufgabe
der Skulptur erinnert. Man kann Klinger dazu rechnen •
namentlich aber E. M. Geyger, K. Hahn und L. Tuaülon:
Hildebrand nimmt eine Sonderstellung ein. — Sie streben
demselben Ziel mit einer Konvenienz zu, die nichts Natio-
nales hat, sondern auf teils altklassische, teils florentinische
Quellen zurückgeht. Man kann bedauern, dafs unsere herr-
liche Gotik keinen Jungen zu neuen Thaten erweckt, denn
es ist anzunehmen, dafs dadurch unserer Skulptur anwend-
barere "Wirkungen erschlossen würden.

In Leuten wie Bruno Schmitz erwächst uns eine neue
monumentale Architektur. Noch gähnt zwischen diesen

Bauten und den Figuren, die
sie tragen, eine schneidende
Differenz, und zwar steht der
Bildhauer weit hinter diesen
freilich sehr vereinzelten Archi-
tekten zurück. Hier einzusetzen
ist uns nötiger als eine Renais-
sance der Renaissance. Ander-
seits stellen unsere, der Renais-
sance zugeneigten, deutschen
Künstler, die auf demselben
"Wege zu glänzenden "Werken
kommen, auf dem die Kunst
einst zur traurigsten Oede ver-
siegte, den Beweis, dafs es nicht
auf die gewählte Konvenienz
allein ankommt, sondern vor
allem darauf, was die Persön-
lichkeit aus ihr macht.

J. Meier-Graefe

GEORGE MINNE, DIE DREI HEILIGEN FRAUEN

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