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Panofsky, Erwin
Die Sixtinische Decke — Bibliothek der Kunstgeschichte, Band 8: Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.61283#0010
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gar ins Freie, sondern sie verstärkt sie als eine vielfach
abgestufte Relief schicht, die weniger im Sinn einer
malerischen Raumerweiterung, als einer plastischen
Raumverengerung wirkt.
Aber je rechtwinkliger und schmuckloser das archi-
tektonische Gerüst, um so reicher und lebendiger der
figurale Schmuck, der für Michelangelo nur aus
Menschen bestehen konnte — aus Menschen verschie-
denen Maßstabes und verschiedenen Realitätsgrades,
die sich gerade im Kontrast mit dem starren System
der „Quadratura“ zu größter Lebensfülle entfalten. —
Die Einordnung gemalter Menschen in eine gemalte
Architektur kann, rein logisch genommen, entweder
in der Weise erfolgen, daß die Gestalten, als schein-
bare Lebewesen, gewissermaßen die Bewohnerschaft
der Architektur darstellen, oder aber in der Weise,
daß sie, als scheinbare Kunstwerke, selbst einen Be-
standteil der Architektur bilden. Michelangelo hat sich,
unangefochten von rationalistischen Bedenken, eine
viel reichere Skala geschaffen. Er zeigt uns in den
Historien des Deckenspiegels Menschen als Gegenstände
scheinbar malerischer Darstellung, er zeigt uns in den
Kinderkaryatiden Menschen als scheinbar steinskulpierte
Plastiken, er zeigt uns in den riesigen Sibyllen und
Propheten, die (um Abwechslung zu schaffen und viel-
leicht auch mit Rücksicht auf den alttestamentlichen
Inhalt der Mittelbilder) an die Stelle der Apostel ge-
treten waren, Menschen als scheinbar leibhaft existie-
rende Persönlichkeiten: aber zwischen den „gemalten“
und „skulpierten“ Figuren stehen die auf den Stich-
kappenschrägen lagernden Bronzeakte, von denen sich
kaum sagen läßt, ob sie als Malereien, Reliefs oder
Plastiken zu denken sind, und zwischen den Sitzfiguren
und den Karyatidenkindern stehen die tafeltragenden
„SpiriteUi“, die trotz ihres natürlichen Inkarnats den
Wirklichkeitswert der Propheten und Sibyllen nicht

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