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Panofsky, Erwin <Prof. Dr.>
Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst — Leipzig, Berlin, 1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.29796#0067
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4*

Der ,,Traum des Ritters“ und das lat. Narrenschiff Sebastian Brants

So reizend das ist: schon die von Brant selber beigesteuerte Unter-
schrift des Holzschnittes belehrt uns darüber, daß der Wettstreit ganz
anders ausgeht:

„Aspice conflictum Virtutis atque petulcae
Deinde Voluptatis, gaudia vana vide.

Legimus Alciden, somno cum forte iaceret,

Vidisse ambiguas difficilesque vias:

Ambarumque statum, finem vitamque modumque
Scrutans Virtutis coepit inire viam.“1)

Der Holzschnitt soll also — eine von der Brantforschung niemals ver-
kannte Tatsache2) — unfraglich das Thema „Hercules am Scheide-
wege“, d.h. den Sieg der „Tugend“, zur Anschauung bringen, wenngleich
es uns in dieser gotischen Gewandung eher „travestiert“ als „dargestellt“
erscheinen will. Ist damit nun aber die Frage nach dem Gedankengehalt
des Raffaelischen Bildes nicht trotz der vorhin berührten Bedenken so
eindeutig im Sinne des Hercules-Themas beantwortet, daß jede weitere
Bemühung zwecklos erscheint ? Wenn die Hauptfigur eben des Holz-
schnitts, der als das Vorbild des Gemäldes angesehen werden darf, trotz
ihrer mittelalterlichen Erscheinung laut unzweideutiger Textaussage
einen Hercules vorstellt: ist dann nicht von dem immerhin antikischen
Ritter des Raffaelbildes ein gleiches um so wahrscheinlicher ? Könnte sich
der Maler, anstatt sogleich die mythologische Gestalt des Hercules zu
restituieren, nicht vorerst damit begnügt haben, dem gotischen Trach-
tenrealismus einen antikischen Trachtenrealismus entgegenzustellen?

1) In der zweiten lateinischen Bearbeitung des Jodocus Badius (Josse Bade)
konnte dieses „Argumentum“ fortbleiben, weil er das lange Streitgespräch zwischen
„Virtus“ und „Voluptas“, von dem im folgenden ausführlich die Rede sein soll, auf je
zwei Sapphische Strophen reduzierte, die unmittelbar unter den Holzschnitt gesetzt wer-
den konnten. Diese zweite Bearbeitung erschien erstmals in Paris 1500/1501, dann in Basel
1506 und 1507, wobei die Basler Drucke für die Concertatio-Darstellung immer noch den
Originalstock der Locherschen Ausgabe benutzen konnten, dagegen auf die Einzel-
Darstellungen von Tugend und Laster verzichteten. Die Badiussche Bearbeitung ist, wie
neuerdings festgestellt wurde, sogar in Burgos, und zwar von einem deutschen Drucker,
nachgedruckt worden; vgl. James P. R. Lyell, Early Book-Illustration in Spain, 1926,
S. 81. Nur in Italien hat das Narrenschiff begreiflicherweise kein Glück gemacht: es ist
fast das einzige Kulturland, in dem die „Stultifera Navis“ weder im lateinischen Urtext
noch in Volgare-Übersetzung aufgelegt wurde.

2) Vgl. neuerdings den sehr instruktiven Aufsatz von W. Fränger, Mittlgn. d. Ges.
f. Vervielfältigende Kunst, 1926, S. 25ff., der aber auf die Beziehung zu Raffael nicht
eingeht. Nur dieses Nebeneinander-Arbeiten der „deutschen“ und „italienischen“ Kunst-
geschichte macht es erklärlich, daß beispielsweise bei Gronau die alte Pipersche Deutung
des Raffaelbildes auf „Hercules am Scheidewege“ und die de Mauldesche „Narrenschiffs“-
Entdeckung als zwei beziehungslose Dinge nebeneinander zu stehen scheinen, während doch
gerade der Narrenschiffsholzschnitt expressis verbis als eine Darstellung der Hercules-
fabel bezeichnet ist.
 
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