Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Panofsky, Erwin <Prof. Dr.>
Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst — Leipzig, Berlin, 1930

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.29796#0221
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
i95

Exkurs III. Die Tugend- und Lasterallegorie des Antonio Averlino Filarete
von Senecas Herculestragödien habe reden hören.1) Allein die Fehler-
quelle dürfte anderswo zu suchen sein. Wenn wir bei unserm Autor, der
freilich immer gern mit seinem Griechisch kokettiert, die Pforten der
Tugend und des Lasters als „Porta Areti“ und „Porta Chachia“ be-
zeichnet finden und außerdem die „Tugend“ als „weiß gekleidet“ be-
schrieben sehen, so weist das eigentümliche Zusammentreffen dieser
beiden Züge ziemlich unzweideutig darauf hin, daß Filarete — für diese
frühe Zeit ein ganz großer Ausnahmefall —mit der Xenophontischen
Urfassung der Herculesfabel bekannt war; und da nun Xenophon im
Italienischen ganz allgemein als „Senofonte“ bezeichnet zu werden
pflegt, so wird man nicht fehlgehen, wenn man die irrtümliche Nennung
Senecas weniger auf einen sachlichen Irrtum, als auf eine reine Namens-
verwechselung, wenn nicht sogar auf einen bloßen Schreib- oder Hör-
fehler zurückführt.2) Daß aber gerade Filarete die Möglichkeit hatte, den
damals so wenig bekannten Xenophontext zu zitieren, begreift sich leicht
aus seiner jahrelangen Freundschaft mit Francesco Filelfo, der als
Übersetzer der „Kyrupädie“, des „Agesilaus“ und der „Res publica“
der erste Xenophonkenner der Epoche genannt werden darf, und dessen
philologischer Hilfsbereitschaft der Künstler im „Trattato delT Archi-
tettura“ ein rührendes Denkmal gesetzt hat.3) Eher als irgend ein anderer
Schriftsteller war also Filarete in der Lage, die Xenophontische Urfas-
sung der Herculesfabel kennen zu lernen und ihr die genuinen Ausdrücke
’Aperq und Kayda sowie das Motiv der „weißen Kleidung“ zu entnehmen;
und von hier aus erklärt es sich nun auch, daß er — als einziger Autor
vor Sebastian Brant —dem Hercules die beiden Frauen im Traume
(„in sonno“) erscheinen läßt4); denn gerade der Xenophon-Text hat ja,
wie wir wissen5), die Begegnung mit „Tugend“ und „Laster“ in einem
Satze dargestellt, der überaus leicht im Sinne einer Traumvision miß-
deutet werden konnte: cpavvjvat, aurm Tcpocrtivat,.

Die (negative) Bestätigung für diese Hypothese läßt sich durch
den bisher verabsäumten Vergleich des Filaretischen Traktats mit seiner
lateinischen Übersetzung erbringen. Ihr Autor, der an des Ungarn-

1) v. Oettingen, S. 728.

2) Bekanntlich ist uns Filaretes Traktat nur abschriftlich erhalten. Analoge Namens-
verwechselungen (Lukian und Lukrez, Polykrates und Polykletus) erwähnt J. v. Schlosser,
Die Kunstliteratur, 1924, S. 116.

3) Vgl. Lazzaroni-Munoz, S. iioff., 235ff. und S. 265, wo die fabulöse Erzählung
des XIV. Buches (v. Oettingen, S. 435ff.; der Fürst und der Architekt entdecken einen
griechisch geschriebenen ,,Codex Aureus", den ihnen Filelfo zu übersetzen vermag) mit
Recht als eine feine Dankesbezeugung gedeutet wird.— Filelfos Übersetzungen sind u. a.
abgedruckt in Xenophontis . . . opera, quae quidem extant, omnia . . ., Basel 1545.

4) Vgl. oben S. 42.

5) Vgl. oben S. 59.

I3:
 
Annotationen