Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Pathopsychologie — Leipzig, 1.1912

DOI Artikel:
Vorwort
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.2776#0006
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
2 Vorwort.

englischen und französischen Philosophie würdigt man die Bedeutung
der Pathologie für die psychologische Erkenntnis schon seit längerer
Zeit (Maudsley, Taine, Kibot u. a.) ; von entscheidender Bedeutung
ist sie in dem Werke matière et mémoire des hervorragendsten
französischen Philosophen der Gegenwart Henri Bergson. Bei uns
in Deutschland haben von der pathologischen Methode Anwendung
gemacht vor allem Störring in seinen »Vorlesungen über Psycho-
pathologie«, dann Oesterreich in dem kürzlich erschienenen Werk
»Phänomenologie des Ich in ihren Grundproblemen«. Auf der andern
Seite bemühen sich auch die Psychiater seit längerer Zeit um eine
verfeinerte Symptomatik der psychischen Störungen (Kraepelin,
Sommer, Ziehen) und um tieferes psychologisches Verständnis der-
selben (Freud, Janet, Pick, Heilbronner, Liepmann u. a.).

Gleichwohl darf gesagt werden, daß es sich nach beiden Rich-
tungen hin nur um vereinzelte Bestrebungen und erste Ansätze zu
einer Pathopsychologie handelt, ja, daß in psychiatrischen Kreisen
noch nicht einmal der Wesensunterschied von klinischer Expérimental-
psychologie und Pathopsychologie deutlich erkannt ist. Daß in der
Psychologie die pathologische Methode bisher nicht diejenige Ver-
wendung gefunden hat, die sie durch ihre mannigfachen Vorzüge
vor der experimentellen Methode beanspruchen darf, hat übrigens
seine einfachen Gründe. Die Fachpsychologen sind, mit nur wenigen
Ausnahmen, mit dem pathologischen Material, das in medizinischen
Zeitschriften und hier obendrein zerstreut zwischen gehirnanatomi-
schen, neurologischen und rein klinischen Arbeiten niedergelegt ist,
nicht vertraut. Die Psychiater aber müssen von der dringenden
Aufgabe einer Pathopsychologie so lange abgelenkt werden, als sich
das Dogma, psychische Krankheiten seien in jedem Falle Hirnkrank-
heiten, und der Begriff »Funktion«, wie er in der Rede von den
»nicht organischen« sogenannten funktionellen Geistesstörungen ge-
braucht wird, habe nur Berechtigung als Zugeständnis der Unfertig-
keit gehirnanatomischer Forschung, allgemeiner und selbstverständ-
licher Anerkennung erfreut.

Diesem doppelten Mangel zu steuern, die Pathologie des
Seelenlebens in systematischer Arbeit der psychologi-
schen Erkenntnis zu erschließen und die Lehre von den
psychischen Krankheiten neu zu fundieren auf einer
 
Annotationen