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Zeitschrift für Pathopsychologie — Leipzig, 1.1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.2776#0101
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Über Selbsttäuschungen. 97

Beziehung auf ein bestimmtes Ich wahrnehmbar werden, als auch
ichfremde Vorgänge, d. h. solche, die an das erlebte Ich in einer
ähnlichen Art der Aufdringlichkeit und Zwangsmäßigkeit herantreten
wie eine äußere Realität, z. B. Zwangsabtriebe, Zwangsvorstellungen usw.
Wir vermögen z. B. einen Gedanken zu denken, ohne darin zu wissen,
ob er unser eigener ist oder eine Lesefrucht, und ein Gefühl zu
haben, ohne zu wissen, ob es unser Gefühl ist oder dasjenige, das
nur durch psychische Ansteckung uns gegeben ist. Es ist also
keineswegs bloß die äußere Wahrnehmung z. B. einer Farbe, die
ja stets ohne bewußte Ichbeziehung, ohne ein Mitgegebensein des
Tatbestandes, daß Ich es bin, der sie vollzieht, sich vollzieht, in der
eine Selbstwahrnehmung fehlen kann; sondern auch die innere Wahr-
nehmung oder die Wahrnehmung von Psychischem ist daran nicht
notwendig gebunden. Nur wer die ganze Psychologie auf das Ich-
bewußtsein gründen wollte wie Lipps z. B., könnte dies bestreiten.
Das Ich bzw. das psychische Selbst ist also nur ein Gegenstand der
inneren Wahrnehmung, wenn auch ein solcher eigener Art.

Aber noch in einem anderen Sinne führt jene Gleichsetzung in
die Irre. Das eigene Selbst ist uns durchaus nicht nur durch innere
Wahrnehmung, sondern ebenso durch äußere Wahrnehmung gegeben.
Beschaue ich meine Arme, Beine, Hände, so nehme in dem allem
ebenso mich selbst wahr, als wenn ich durch Erlebnisse, Gefühle hin-
durch auf mein Selbst blicke, das sie erlebt. Der Selbstwahrnehmung
steht nicht die äußere Wahrnehmung, sondern die Fremdwahrnehmung
gegenüber. Es ist keineswegs selbstverständlich, daß diese notwendig
mit äußerer Wahrnehmung zusammenfalle. Denn dies deduzieren
meist nur diejenigen, welche die sonderbare Idee haben, daß Fremd-
seelisches, sei es immer nur aus dem allein der Wahrnehmung zu-
gänglichen körperlichen Verhalten des anderen erschlossen, sei es
in das Bild seines körperlichen Daseins aus dem Schatze des Selbst-
erlebten hineingelegt, z. B. eingefühlt werde, nie aber wahrgenom-
men werden könne1.

1 Es ist ein Irrtum, daß die Ausdrucksphänomene der Erlebnisse eines fremden
Individuums: Lachen, Weinen, Erröten, bittende Hände usw. oder besser deren
Gehalt an Farbe, Form, Linie, Bewegung die Auffassung als Eigenschaften und
Tätigkeiten von Körpern durchlaufen müßten, ehe sie als Symbole seelischer
Erlebnisse gefaßt würden. >Gegeben« im Sinne von anschaulich selbstgegeben ist

Zeitschrift f. Pathopsychologie. I. 1. Heft. 7
 
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