288 Max Seheier
beherrschte. Auch die Dinge »streben einander vor« jedes dem
anderen in jenem Siegeswettlauf nach der Gottheit: nur daß der
Preis, der hier den Sieger kränzt, ein überschwenglicher wird —
der Anteil am »Wesen«, am Wissen des Wesens. Die Liebe ist hier
nur ein dem Weltall einwohnendes dynamisches Prinzip, das diesen
»Agon« der Dinge um die Gottheit bewegt.
Dieser Konzeption stelle man nun die christliche gegenüber. Da
findet etwas statt, was ich die Bewegungsumkehr der Liebe nennen
möchte. Hier schlägt man dem griechischen Axion der Liebe, daß
Liebe ein Streben des Niederen zum Höheren sei, keck ins Gesicht.
Umgekehrt soll sich die Liebe nun gerade darin erweisen, daß das
Edle sich zum Unedlen herabneigt und hinabläßt, der Gesunde zum
Kranken, der Reiche zum Armen, der Schöne zum Häßlichen, der
Gute und Heilige zum Schlechten und Gemeinen, der Messias zu den
Zöllnern und Sündern — und dies ohne die antike Angst, dadurch
zu verlieren und selbst unedel zu werden, sondern in der eigentümlich
frommen Überzeugung, in diesem »Beugen«, in diesem Sichberabgl eiten-
lassen, in diesem »Sichverlieren« das Höchste zu gewinnen — Gott
gleich zu werden1. Die Umformung der Gottesidee und ihres Grund-
verhältnisses zu Welt und Mensch ist nicht der Grund, sondern die
Folge dieser Bewegungsumkehr der Liebe. Jetzt ist Gott kein ewiges,
ruhendes Ziel, gleich einem Sterne, mehr, für die Liebe der Dinge,
das die Welt bewegt, wie »das Geliebte den Liebenden bewegt«
(Aristoteles), sondern sein Wesen selbst wird Lieben und Dienen
und daraus folgend erst Schaffen, Wollen, Wirken. An Stelle des
ewigen ersten »Bewegers« der Welt tritt der Schöpfer, der sie »aus
Liebe« schuf. Das Ungeheure (für den antiken Menschen), das nach
jenen Axiomen schlechthin Paradoxe, soll sich in Galiläa begeben
haben: Gott kam herab zum Menschen und ward ein Knecht und
starb am Kreuze den Tod des schlechten Knechtes! Sinnlos wird
nun der Satz, man solle die Guten lieben, die Bösen hassen, den
Freund lieben, den Feind hassen usw. Es gibt ja keine Idee eines
»höchsten Gutes« mehr, das einen Inhalt hätte jenseits und unab-
hängig vom Akte der Liebe, ihrer Bewegung! Von allen guten
Dingen ist die Liebe selbst das beste! Nicht ein Sachwert, sondern
1 Mit besonderer Schärfe ist dieser Gedanke auch ausgedrückt in den Ab-
schnitten über die Liebe der Imitatio Christi von Thomas a Kempis.
beherrschte. Auch die Dinge »streben einander vor« jedes dem
anderen in jenem Siegeswettlauf nach der Gottheit: nur daß der
Preis, der hier den Sieger kränzt, ein überschwenglicher wird —
der Anteil am »Wesen«, am Wissen des Wesens. Die Liebe ist hier
nur ein dem Weltall einwohnendes dynamisches Prinzip, das diesen
»Agon« der Dinge um die Gottheit bewegt.
Dieser Konzeption stelle man nun die christliche gegenüber. Da
findet etwas statt, was ich die Bewegungsumkehr der Liebe nennen
möchte. Hier schlägt man dem griechischen Axion der Liebe, daß
Liebe ein Streben des Niederen zum Höheren sei, keck ins Gesicht.
Umgekehrt soll sich die Liebe nun gerade darin erweisen, daß das
Edle sich zum Unedlen herabneigt und hinabläßt, der Gesunde zum
Kranken, der Reiche zum Armen, der Schöne zum Häßlichen, der
Gute und Heilige zum Schlechten und Gemeinen, der Messias zu den
Zöllnern und Sündern — und dies ohne die antike Angst, dadurch
zu verlieren und selbst unedel zu werden, sondern in der eigentümlich
frommen Überzeugung, in diesem »Beugen«, in diesem Sichberabgl eiten-
lassen, in diesem »Sichverlieren« das Höchste zu gewinnen — Gott
gleich zu werden1. Die Umformung der Gottesidee und ihres Grund-
verhältnisses zu Welt und Mensch ist nicht der Grund, sondern die
Folge dieser Bewegungsumkehr der Liebe. Jetzt ist Gott kein ewiges,
ruhendes Ziel, gleich einem Sterne, mehr, für die Liebe der Dinge,
das die Welt bewegt, wie »das Geliebte den Liebenden bewegt«
(Aristoteles), sondern sein Wesen selbst wird Lieben und Dienen
und daraus folgend erst Schaffen, Wollen, Wirken. An Stelle des
ewigen ersten »Bewegers« der Welt tritt der Schöpfer, der sie »aus
Liebe« schuf. Das Ungeheure (für den antiken Menschen), das nach
jenen Axiomen schlechthin Paradoxe, soll sich in Galiläa begeben
haben: Gott kam herab zum Menschen und ward ein Knecht und
starb am Kreuze den Tod des schlechten Knechtes! Sinnlos wird
nun der Satz, man solle die Guten lieben, die Bösen hassen, den
Freund lieben, den Feind hassen usw. Es gibt ja keine Idee eines
»höchsten Gutes« mehr, das einen Inhalt hätte jenseits und unab-
hängig vom Akte der Liebe, ihrer Bewegung! Von allen guten
Dingen ist die Liebe selbst das beste! Nicht ein Sachwert, sondern
1 Mit besonderer Schärfe ist dieser Gedanke auch ausgedrückt in den Ab-
schnitten über die Liebe der Imitatio Christi von Thomas a Kempis.