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Zeitschrift für Pathopsychologie — Leipzig und Berlin, Ergänzungsband 1.1914

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https://doi.org/10.11588/diglit.2775#0109
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Zur Psychologie des kindlichen Eigensinnes. 105

die Annahme des geschilderten seelischen Prozesses auf Grund der
»Ich-Schwäche« abgeben kann. Wie früh er bereits einsetzt, wie
weit andere Momente in Frage kommen, das läßt sich wohl kaum
je mit Sicherheit behaupten.

Wichtiger aber ist ein zweites: Das als »Ich-Schwäche« geschil-
derte Phänomen ist fraglos unendlich viel häufiger als der essentielle
Eigensinn, und wir haben selbst schon auf einige von den Möglich-
keiten hingewiesen, in denen sich ihre Wirksamkeit geltend machen
kann. Es muß sehr viele geben, wenn auch nur in großen Zügen
das richtig ist, was wir von ihrem Wesen behauptet haben, und die
Manifestation im essentiellen Eigensinn kann deshalb nur ein Spe-
zialfall sein, zu dessen besonderer Motivierung noch andere Momente
beitragen müssen. Bevor wir diese konkurrierenden Nebenursachen
untersuchen, ist es zweckmäßig, daran zu erinnern, daß sehr
gut essentiell eigensinnige Charaktere denkbar sind, bei denen aber
aus besonderen Gründen der Eigensinn latent bliebe, und diese Ver-
mutung wird noch gestutzt durch alles, was wir von der Bedeutung
des Intellekts für die Organisation des Ichs sagten.

Wenn der eigensinnige Mensch intelligent genug ist und ihn nicht
z. B. eine paranoische Einstellung daran hindert, dann kommt auch
er zu demselben Schluß wie wir, daß Eigensinn ein Anpassungs-
fehler ist, und so zu dem Wunsch, diese Methode des Ichsuchens
und Ichbewahrens gegen eine bessere zu vertauschen. Deshalb fin-
den wir gerade beim Kinde, das weder innerlich noch äußerlich
über solche Möglichkeiten verfügt, sehr viel öfter den essentiellen
Eigensinn. Aber schon beim Kinde kommt es vor, daß eine Me-
thode mit der anderen vertauscht wird. Adlers sehr feine Be-
obachtung, daß beim gleichen Individuum die beiden Einstellungen
auf Trotz und die auf extremen Gehorsam einander ablösen können,
ist ein Beleg dafür.

Ist beim Eigensinnigen neben dem sogenannten Vermögen der
»Auffassung« und des Denkens auch die »ordnende Funktion« des
Intellekts stark entwickelt, dann kann er dahin gelangen, einzusehen,
daß er selbst, seine zentrale Schwäche, nicht aber der Einfluß der
Umwelt an und für sich der Urgrund des Übels ist. Dann kann er
vielleicht sogar im einzelnen Fall durch eine wirklich gründliche
Überlegung trotz fremden Einflusses, zum Willenserlebnis kommen
 
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