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Beide geeint
sehen hatten als in Werken der Skulptur und Malerei. Lassen wir
uns jedoch durch übertreibende Schilderungen nicht verleiten, das
Unterscheidende dieser Bühnendarstellung für zu gross zu halten,
um beide Künste noch als nah verwandte anzusehen. Ist doch
im Wortlaut unserer Tragödien gar nichts was auf jene eigentliche
und, wie man versichern hört, absonderlich fremdartige, man sagt
wohl gar barbarische Erscheinung hinwiese, oder darauf Rücksicht
nähme: alle Personen sprechen vielmehr, wie sie in der Dichtung
auch früher sprachen. Die Masken und was etwa sonst die Schau-
spieler zu Helden der Sage machte, wird durchaus ignoriert. Ihr
Auftreten, ihre Bewegungen, Gebärden erscheinen nie anders als
rein natürlich, ob auch in gemessenem Anstande. Die 'hellenische
Nacktheit’ war ein Vorrecht der bildenden Kunst, dem das Leben,
vom Gymnasium abgesehen, nicht entsprach. Und auch in der
bildenden Kunst hat sie sich erst in der zweiten Hälfte des fünften
Jahrhunderts völlig durchgesetzt. Den. grösseren Teil des Jahr-
hunderts, in dem die Tragödie blühte, trugen ältere Männer im Bild-
werke wie im Leben noch den bis auf die Füsse reichenden Chiton,
den in dessen ersten Dezennien selbst jüngere Männer noch nicht
ganz abgelegt hatten. Als rüstige Wanderer trugen beide damals
wie heute, den kurzen bis auf die Knie reichenden Chiton, mit dem
auch der Herakles der Pronomos-Vase bekleidet ist. Dem athenischen
Theaterpublikum war diese Tracht also viel weniger fremdartig als
den Heutigen, die sich ihre Vorstellung von den Helden der Sage
aus unsern Gipsmuseen holen Auch ist es nicht wahrscheinlich,
dass die Physiognomie der Bühnenkunst von Aeschylus bis Euri-
pides unverändert geblieben sei.
Die Geschichte des klassischen Dramas ist solchergestalt halb
Literatur-, halb Kunstgeschichte, und ihre Beziehung zur eigentlichen
Kunstgeschichte ist sogar eine sehr enge. Jede von beiden muss
die andre im Auge haben. Die Bühnenkunst ist wiederum, wegen
der leichteren Handhabung und grösseren Beweglichkeit der Sprache
wie auch des lebendigen Körpers, die voraufeilende, rascher ihrer
Darstellungsmittel Herr als Malerei und Skulptur. Infolgedessen
gibt die Bühnenkunst für die Beurteilung dieser letzteren mehr aus
als umgekehrt, um so mehr, als wir für die bildenden Künste nicht
in der glücklichen Lage sind, so viele und so weit erhaltene originale
Werke der drei grössten Meister zu besitzen, wie von Aeschylus,
Sophokles und Euripides. Wie der voranschreitenden Dichtung,
speziell der Bühnenkunst die eigentliche Bildkunst nachgeht, be-
merkte schon Winckelmann an verschiedenen Stellen, sowohl seiner
Beide geeint
sehen hatten als in Werken der Skulptur und Malerei. Lassen wir
uns jedoch durch übertreibende Schilderungen nicht verleiten, das
Unterscheidende dieser Bühnendarstellung für zu gross zu halten,
um beide Künste noch als nah verwandte anzusehen. Ist doch
im Wortlaut unserer Tragödien gar nichts was auf jene eigentliche
und, wie man versichern hört, absonderlich fremdartige, man sagt
wohl gar barbarische Erscheinung hinwiese, oder darauf Rücksicht
nähme: alle Personen sprechen vielmehr, wie sie in der Dichtung
auch früher sprachen. Die Masken und was etwa sonst die Schau-
spieler zu Helden der Sage machte, wird durchaus ignoriert. Ihr
Auftreten, ihre Bewegungen, Gebärden erscheinen nie anders als
rein natürlich, ob auch in gemessenem Anstande. Die 'hellenische
Nacktheit’ war ein Vorrecht der bildenden Kunst, dem das Leben,
vom Gymnasium abgesehen, nicht entsprach. Und auch in der
bildenden Kunst hat sie sich erst in der zweiten Hälfte des fünften
Jahrhunderts völlig durchgesetzt. Den. grösseren Teil des Jahr-
hunderts, in dem die Tragödie blühte, trugen ältere Männer im Bild-
werke wie im Leben noch den bis auf die Füsse reichenden Chiton,
den in dessen ersten Dezennien selbst jüngere Männer noch nicht
ganz abgelegt hatten. Als rüstige Wanderer trugen beide damals
wie heute, den kurzen bis auf die Knie reichenden Chiton, mit dem
auch der Herakles der Pronomos-Vase bekleidet ist. Dem athenischen
Theaterpublikum war diese Tracht also viel weniger fremdartig als
den Heutigen, die sich ihre Vorstellung von den Helden der Sage
aus unsern Gipsmuseen holen Auch ist es nicht wahrscheinlich,
dass die Physiognomie der Bühnenkunst von Aeschylus bis Euri-
pides unverändert geblieben sei.
Die Geschichte des klassischen Dramas ist solchergestalt halb
Literatur-, halb Kunstgeschichte, und ihre Beziehung zur eigentlichen
Kunstgeschichte ist sogar eine sehr enge. Jede von beiden muss
die andre im Auge haben. Die Bühnenkunst ist wiederum, wegen
der leichteren Handhabung und grösseren Beweglichkeit der Sprache
wie auch des lebendigen Körpers, die voraufeilende, rascher ihrer
Darstellungsmittel Herr als Malerei und Skulptur. Infolgedessen
gibt die Bühnenkunst für die Beurteilung dieser letzteren mehr aus
als umgekehrt, um so mehr, als wir für die bildenden Künste nicht
in der glücklichen Lage sind, so viele und so weit erhaltene originale
Werke der drei grössten Meister zu besitzen, wie von Aeschylus,
Sophokles und Euripides. Wie der voranschreitenden Dichtung,
speziell der Bühnenkunst die eigentliche Bildkunst nachgeht, be-
merkte schon Winckelmann an verschiedenen Stellen, sowohl seiner