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Pfälzer Bote für Stadt und Land (68) — 1933 (Juli bis September)

DOI Kapitel:
Nr. 148-173 (1. - 31. Juli)
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Mittwoch, den 12. Juli 1S3S



was fiir die englische Politik sowohl wie für
das mögliche weitere Flickwerk der Konferenz
nur bedeuten kann, daß sich England keines-
wegs binden will. Was wir früher schon aus-
führten, bewahrheitet sich immer mehr. Das
einzige, was London noch bringen wird, ist
ein gewisses Hinausschieben und Verzögern,
doch die Vertagung kommt und mit dieser die
Entscheidung, bei der jedes Land auf eigenst
zu treffende Maßnahmen angewiesen sein
wird. Von der deutschen Negierung
wissen wir, daß sie vorbereitet ist und daß ihre
Maßnahmen fördernd und zielfest kommen
werden.

dann insbesondere auf das Gesetz zur För-
derung der Eheschließungen ein. Bei
diesem Gesetz handele es sich nicht um eine ein-
malige, sondern um eine dauernde Entlastung
des Arbeitsmarktes.
Man rechne durch dieses für die Dauer des
Vierjahresplanes der Reichsregierung bestimmte
Gesetz mit einer Entlastung des Arbeits-
marktes um eine Million. Schon jetzt
habe die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung in
ihrem letzten Bericht auf eine fühlbare Entlastung
des Arbeitsmarktes Hinweisen können, der ms
dieses Gesetz und auch auf das Gesetz über die
Ueberführung weiblicher Arbeitskräfte
in die Hauswirtschaft zurückzuführen sei.
Staatssekretär Reinhardt beschäftigte sich dann
im einzelnen mit der Durchführung der
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. In
erster Linie sollen unter den Arbeitslosen Fa-
milienernährer, Kinderreiche und langfristig Er-
werbslose berücksichtigt werden, ferner auch An-
gehörige der nationalen Wehrverbände. Der
Redner gab sodann eine ausführliche Uebersicht
über die Gegenstände, die als Ersatzbeschaf-
fungen gelten und für die Steuerfreiheit ge-
währt wird. Er betonte in diesem Zusammen-
hang, daß es Pflicht alle Behörden und Privaten
sein müsse, nur neue Gegenstände zu
kaufen.

rungen zu antwortest. Wir benutzen deshalb den
Weg über die deutsche Presse, nm allen Freun-
den im Lande und darüber hinaus dem ganzen
Volke für das Vertrauen zu danken, das aus
den zahlreichen Stimmen spricht.
Die einzige trostreiche Zusicherung, die wir
auf alle verängstigten und entrüsteten Zuschrif-
ten geben können, ist die, daß jeder Volksge-
nosse in der Reichsregierung die sicherste Ga-
rantie für eine zweckentsprechende und hoff-
nungsvolle Behandlung des großen Gebietes
der Luftgefahr und des Luftschutzes sehen kann
und soll. .
Die Regierungen und Behörden des neuen
Staates sind offensichtlich so sehr von der Er-
kenntnis der Luftgefahr und der Notwendigkeit
ihrer Abwehr und des Schutzes der Bevölke-
rung durchdrungen, daß von dort aus zweifel-

*
Berlin, 12. Juli. Während die Berliner
amtlichen Stellen in aller Ruhe die Entwick-

lung der Londoner Konferenz ahwarten, schei-
nen sich mehr und mehr frühere Konferenz-
freunde auseinanderzureden. Mit einem
Male tritt der ehemalige französische Mini-
sterpräsident Herriot als Verteidiger der
Fortsetzung der Konferenz auf und will eine
Lösung der Geduld und Versöhnung. An-
dererseits hat aber noch kein ausländischer
Delegierter etwas darüber zu sagen vermocht,
wie zweckentsprechende Beschlüsse auf dieser
brüchigen Konferenz gefaßt werden können,
wenn es vorher schon nicht zu einer, wenn
auch nur vorläufigen, Verständigung über die
Währungspolitik kam. Chamberlain

Die schwierige WellwirWastskonferenz
Noch 14 Tage Arbeit / Bis letzt kümmerliche Ergebnisse
London, 11. Juli. In nur viertelstündiger
Sitzung billigte das Konferenzbüro heute
nachmittag die Vorschläge des Nedaktions-
kom.iees. Nach allgemeiner Auffassung dürfte
die Konferenz noch etwa 14 Tage zusammen
bleiben. Wahrscheinlich wird sie sich dann
provisorisch bis September oder Oktober ver-
tagen Man hofft, daß die internationale De-
visenlage dann eine Förderung in weiterem
Rahmen ermöglichen wird.
Dis Annahme der Vorschläge des Redak-
tionsausschusses durch das Büro der Welt-
wirtschafrskonferenz lenkt die Verhandlungen
der Konferenz in ruhiges Fahrwas-
s e r. Nach außenhin jedenfalls wird die Kon-
ferenz in die Lage versetzt, die Arbeiten an
dem Punkt wieder aufzunehmen, an dem sie
vor einer Woche eingestellt wurden.
Die Ruhe nach dem Sturm gibt englischen
Delegationskreisen wieder einmal Gelegen-
heit, ihren fast sprichwörtlich gewordenen
Optimismus zur Schau zu tragen, was
aus folgender Aeußerung eines Delegierten
heroorgeht: „Die Krise war lediglich ein recht
unangenehmer Sturm und nicht, wie man
zuerst befürchtete, ein Orkan. Der Sturm hat
sich gelegt. Das Konferenzschiff wird bald
wieder vorwärtsfahren. Kein Teil der La-
dung ist über Bord geworfen worden. Alle
Segel und Masten sind intakt."
Var dem Abschluß der Londoner Verhandlungen
über die deutschen Eemeindekredite.
London, 11. Juli. Die hier während der letzten Chamberlain sich auffallend frankophil zeig^
zwei Tage abgehaltenen Besprechungen über dis
kurzfristigen deutschen Eemeindekredite zwischen
Vertretern der deutschen Gemeinden und ^sn
ausländischen Eläubigerausschllssen sollen heute
zum Abschluß gebracht worden sein. Dieses zu-
sätzliche Abkommen schließt sich, dem Vernehmen
nach, stark an die Abmachungen über die kom-
merziellen Stillhaltekredite an, und zwei sowchl
hinsichtlich der Herabsetzung der Zinsen, als auch
der vorläufigen Suspendierung der Kapital-
zahlungen.

Mm Stmtsriitr
Berlin, 11. Juli. Wie mir von u-ntervichteter
Solle erfahren, ist nu-nmohr eine Anzahl neuer
preußischer Sta-atsräte ernannt morden. Es han-
delt sich hiestlM um Vertreter von Kirche, Wis-
senschaft, Wirtschaft, Handwerk -iHv. U-nter iden
neuen Staatsräten befinden sich folgende: der
Bischof Berning in Osnabrück, RechtsanwM
Graf von der Goltz (Stettin), der frühere Präsi-
dent des Landwirtschaftsrates Dr. Brandes, der
Präsident des ReichÄandbundes Weinberg (Ber-
lin), Bankdir»?ktor Dr. Reinhard, Dr. SchWerer,
der ehemalige Ob-erbüvg-erm-effter vom DNMurg
Dr. Jarres, Geheimrat S-chvimg (Berlin), Ge-
heimrat Wiegand von den Staatlichen Museen,
Pros. Karl Schmidt (Köln) u-nd M Vertreter
des Handwerks Stange (Erfurt).

los alles getan wird, was die Gefahr für das
Volk herabzumindern geeignet ist.
Der Reichsluftschutzbund ist die Gemeinschaft
aller derer, die durch Selbstschutz dem Botte
dienen wollen.
Unsere Antwort auf die an uns herangetra-
gcnen Stimmen kann daher nur in der Auffor-
derung an die gesamte Bevölkerung ausklingen:
Helft dem Reichsluftschutz, damit er Euch Hel.
fen kann!
Tretet seinen Ortsgruppen bes »der gründet
solche, wo sle »och nicht bestehen!
Luftschutz ist das Gebot der Stunde! Luftschutz
ist die Forderung der Nation!

Luftschutz, die Zvrderms der Ration!
Berlin, 11. Juli. Vom Präsidium des Reichs-
luftschutzbundes wird mitgeteilt:
Die Üeberfliegung deutscher Gebietsteile durch
landfremde Flugzeuge und der herausfordernde
Abwurf von Hetzflugblättern über der Reichs-
hauptstadt am 23. Juni habe» im ganzen Volk
einem Sturm der Entrüstung ausgelöst.
Aus allen Teilen des Reiches sind uns zahllose
Aeußerungen in dieser Angelegenheit znzetra-
gey worden. Aus allen, Stimmen spricht die
wachsende Sorge um die Sicherheit
der Bevölkerung. Sie alle sind der be-
redte Ausdruck des Verlangens nach wahrem
Frieden und wirklicher Gleichbe-
rechtigung. Sie geben aber auch dem Zorn
über die angetane Schmach und der Erbitterung
über die Unfreiheit Deutschlands in der Lust
leidenschaftlichen Ausdruck.
Es ist uns unmöglich, auf alle diese Aeuße-

Stimmen vom Tage
Von der Revolution zur Evolution
Die Erklärungen, die heute der R-öichsdnnen»
minister Dr. Frick an die Rmchsstatkhalter und
an die Ländervögst'rungen -gerichtet hat, und der
Artikel des ReichIP vo-pag-anid-am-inistors Dr.
Go-ckbbels stehen in oi-nsm engen Zusammenhang'
miteinander und ergänzen sich logisch. Der Er-
laß des Reichsinn-enmi-nisters stellt gewissermaßen
die Ausführungsb-ssti-mmun-gen zu der Rede dar,
die Reichskanzler Hitler vor kurzem vor den
Reichsstatthaltern gehalten Hot und in der er
ebenfalls betonte, daß die Periode der Revolu-
tion abgeschlossen sei und daß die Periode der
Evolution begonnen habe. Die Exekutive
liegt noch wie vor bpj dem Reichsinnenmii-n-iste-
rium und bei den LäNderregierungen. Infolge-
dessen war es notwendig, daß die zuständige
amtliche Stelle zu den grundsätzlichen Ausfü'h-
. . rungen des Kanzlers Er ganzungs vor-
hat in einer Rede die Stellung der englischen schriften erließ, die den Länd-ervsgierunaei
Regierung erläutert. Er mußte die scheinbar Anhaltspunkte für ihr Vorgehen liefern s-oller
Auf dieser Linie liegt der Erlaß Dr. Fricks.
Wahrend dieser Erlaß sich gegen negative Er-
scheinungen wendet, hat Minister Dr. Goebbels
oi-epositivenGesrchtspunkte heraus-
gearbeitet, die in erster Linie für die national-
sozialistische Portal und ihre Mitglieder m Be-
tracht kommen. Minister Dr, Goebbels Hot Wert
darauf gelegt, die Parteimitglieder auf ihre be-
sonders wichtige, einflußreiche und verantwor-
tungsvolle Rolle Hinzuw-isen und auf die sich
daraus ergebenden Aufgaben. Wenn Minister'
Dr. Frick für ein negatives und schädigendes
Verhalten ausdrücklich auch Hoist -andrah-t, so!
Hot er nicht ohne Grund den Läudervegierustgen
den Dermin des 1. Oktober als MchtpumEt für
die Eingliederung oder Auflösung von Kommis-,
sariaten us-w. angegeben. Mit dem 1. Oktober
werden die großen,'üesand-ersschE
eiusetzen, die jeder Herbst und Winter stellt, und
bis dahin soll die absolute Geschlossenheit und!
Einheitlichkeit des gesamten Staatsapparates
endgültig hergestellt sein.

Am Warnung Dr. Ms
Berlin, 11. Juli. In der Tageszeitung der
Deutschen Arbeitsfront „Der Deutsche" erklärt
der Führer der Deutschen Arbeitsfront, Dr. Lest,
daß das Fundament des neuen Aufbaues der
Deutschen Arbeitsfront nunmehr fertig,gestellt .st.
Das nsu<s Deutschland, heißt es in dem: Artikel
weiter, Kinn nicht nach dem Einzelnen fragen,
wenn um das Schicksal der ganzen Nation ge-
rungen wird. Am wenigsten fragen wir aber
nach denen, die ihre Kruft und Energie dazu
benutzen, um den Anbruch einen neuen Zett zu
verhindern und -die damit den Feinden Deutsch-
lands Handlangerdienste leisteten. Ich bin ge-
willt, mit eiserner Härte den Wühlmäusen ihr
Handwerk zu legen und die letzten Widersta-n-Z-
nes^r auszubreumn.
Mit der gleichen Nachdrücklichkeit möchte ich
jene Kreise warnen, die unter dem Deckmantel
des ständischen Aufbaues ihrer Profitgier huldi-
gen wollen. Dis Zeit ist zu groß und zu erhaben,
der Gedanke des ständischen Aufbaues und der
Deutschen Arbeitsfront ist uns heilig nud zu gut
dafür, kleinlichen und niedrigen Eigennutz hin-
einzutrogen.
Der deutsche Arbeiter marschiert zurück in sein
Vaterland, das bürgerliche kleberheblichleit und
marxistischer B-olksv-ervat ihm gestohlen hatten.
Jejdem, der ehrlich mit uns kämpft, reichen wir
die Hand, aber joden, der uns sabotiert, den
sollen unsere Fänste treffen.
Deutschland voran
Das Internationale Arbeitsamt anerkennt
das Sinken der Arbeitslosigkeit in Deutschland
Dos Conti-Büro schreibt:
Das Internationale Arbeitsamt
in Genf hat gestern fostgcstellt, daß m Deutsch-
land der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit bisher
am erfolgreichsten 'durchgoführt worden ist. Da-
mit haben die Tatsachen, denen sich auch diese
internationale Instanz nicht verschließen kann,
auf diesem gegenwärtig wichtigsten Gebiet der
gesamten Sozialpolitik sehr rasch dem deutschen
System nicht gegeben, das, wie erinnerlich, noch
vor wenigen Wochen in dem gleichen Genfer
Milieu den pravozierendsten Anfeindungen sei-
tens der Vertreter des orthodoxen Marxismus
ausgesetzt war^

amtliche Stelle zu den ar
rungen des Kanzlers E

„ „ . . Anhaltspunkte für ihr Vorgehen liefern s-osien.
doch nicht jo vorbereitete Weltwirtschaftskon-
ferenz verteidigen, und es blieb ihm nichts
anderes übrig, als gleichzeitig zuzugeben, daß
bisher nichts erreicht werden konnte. Wenn
Chamberlain von Bedingungen sprach, unter
denen zu unbestimmter Zeit England zur
Goldwährung zurückkehren könnte, so hat er
sich redlich Mühe gegeben, dieses karge Posi-
tive aufs stärkste auszubreiten. Trotz der
möglichen Definition der englischen Wäh-
rungspolitik sehen wir nur, daß England eine
Erhöhung der Welthandels-
preise erstrebt, was dadurch ermöglicht wer-
den soll, daß durch die Eeldseite entsprechende
Aktionen mobilisiert werden. Also genau das
Nichtssagende, wie wir es auf der Konferenz
hörten. So mar es nicht überraschend, wenn

Nvmsn von Ködert N s s r
k7rdeberrecdts«cdutr! ckurcb k^erksZ Freckebenl L
Koenen, Lsssn
21) (Nachdruck verboten.)
„Ja, tun Sie das, gnädige Frau!" hatte er
gesagt und sie buchstäblich zur Tür hinaus-
geschoben. Blitzartig war ihr die Idee durch
den Kopf gegangen: Dem wird der Boden
unter den Füßen zu heiß, belogen hast er dich
nicht, dafür war er zu aufgeregt. Berlin ist
sein Reiseziel — dort muß auch Christel fein.
Also hefte dich an seine Fersen! Dann war sie
zur nächsten Ecke gelaufen; wo Mietwagen
warteten. Nach Aussage eines Chauffeurs ging
der Zug nach Berlin in einer halben Stunde
ab. „Ein Grund mehr, Rudolf zu glauben.
Also schleunigst zurück zu Brandts und dann
zum Bahnhof.
Nun saß sie hinter „ihm", im gleichen Zuge,
im gleichen Wagen; er: ahnungslos — sie
natürlich ungewiß- ob er nun wirklich zu
Christel fuhr. Wenn nicht — machte sie viel-
leicht eine Entdeckung, die den Verdacht gegen
Dr. Hundevtmark endgültig ausheben mußte.
Es galt uun vor allen Dingen, ihn nicht aus
den Augen zu verlieren. Es traf sich gut, daß
sie von ihrem Platze aus den Durchgang durch
den D-Zug-Wagen immer genau beobachten
konnte. Um selbst nicht gesehen zu werden, zog
sie die Gardine ein wenig vor und machte es
sich bequem. Sie kuschelte sich in ihren Pelz-
mantel, der hinter ihr in der Ecke hing und
ließ ihre Augen durch das Abteil über die Ge-
sichter der Mitreisenden spazieren. Das war
immer ihr größtes Vergnügen auf der Reise.
Ihr gegenüber saß ein rundlicher Herr in den
besten Jahren: volle Backen, stramm gestutzter
Schnurrbart aus schwarzem struppigem Haar,
blauer, tadellos gebügeltern Anzug, rotseidene

Krawatte, Kopfhaar das bis tief in die Stirn
hinein vordrang, glatt geschoren und rasiert.
Die Zigarre schmeckte dem Manne ausgezeich-
net. Er ließ sich die blauen Kringel mit Wonne
in die etwas flach ausgefallene Nase steigen
und beobachtete dabei feine Hände, die sehr
klobig und stark behaart waren. An jedem
kleinen Finger hatte er einen schweren Ring
mit dickem Stein. Am Goldfinger der rechten
Hand hatte wohl auch sonst ein Reifen gesessen
Die Haut zeichnete sich weiß -gegen das Braun
des ganzen Handrückens ab. Nun schob der Herr
einen seiner dicken Ringe über das weiße Mal,
er -tat es sehr verstohlen und mit einem Seiten-
blick auf Lisbeth, die sich schlafend stellte. Neben
ihr saß eine alte Dame in schwarzem Seiden-
kleid, das Haar war ebenfalls seidig, aber fast
weiß. Ihre Gesichtshaut -war fast so zart wie
die eines neugeborenen Kindes. Ununterbrochen
und ohne auszuschauen, ließ die Dame eine
Handarbeit durch -die Finger gleiten, niedliche
kleine Kinderstrümpfchen. Gewiß für die ersten
Weihnachten des kleinen Enkels oder Neffen,
dachte Tante Lisbeth. Ganz von selbst und zu
ihrem eigenen Vergnügen kam ihr der -Gedanke,
wann sie wohl -die ersten Strümpfchen für
Christels -Kinder arbeiten würde. -Sie mußte lä-
cheln über -das tolle Spiel ihrer Phantasie.
Dann machte sie sich wieder Vorwürfe, daß sie
sich so stark in die -ganze Angelegenheit einge-
mischt habe. Wer weiß, ob du je Dank ernten
wird, ging es ihr durch den Sinn.
Aber das Dankernten hatte sie sich schon lange
abgewohnt. Was sollte auch ein Mensch wie
Christel einer alten Tante an Dank abgeben!
Da saß drüben in der andern Ecke des Abteils
am Fenster ein Menschenkind im gleichen Atter
wie Christel, so zwischen achtzehn und zwanzig.
Hübsch herausgeputzt, halb Dame, halb Kind,
natürlich ganz selbstbewußt, närplich im Schnitt
des Jacketts, des Haares und der Geste. Warf
die Kme übereinander, rauchte Zigaretten und
las den Handelsteil der Frankfurter Zeitung.

Offenbar eine Studentin oder irgend was in
-einem männlichen Beruf. Und doch, sagte sich
Lisbeth, wird diese nicht u>id Christel nicht und
keine den Mann abweisen, wenn einer kommt,
wie dieser Dr. Hundertmark, Sollen es auch
nicht. Schließlich ist die Welt vollkommen, -wenn
jegliches Geschöpf den Zweck erfüllt, zu dem es
geschaffen ist. Darin lag das A und O ihrer
Lebensweisheit, die sie 'verteidigte, so oft man
in einer Gesellschaft auf den Sinn des Daseins
zu sprechen kam. Frei gestand sie dann immer
daß sie einmal gerne geheiratet hätte, daß „er"
aber im Kriege gefallen wäre. In der Trauer
um ihn sei sie eben eine alte Jungfer gewor-
den. Wie sehr sie damals tatsächlich gelitten,
wußten nur die nächsten Angehörigen, zu denen
auch der Rektor Brandt gehörte ....
Als es auf Mittag zuging, sah sie, wie Dr.
Hundertmark sich in den Speisewagen begab.
Einige Augenblicke konnte sie sehen, wie gut sein
dunkelgrauer Anzug faß, wie sauber fein Haar
im Nacken geschnitten war, wie sicher und selbst-
bewußt er sich bewegte. „Von hinten ein hüb-
scher Kerl", schwirrte es ihr wieder durch den
Ginn, und schmunzelnd erwog sie, welches
Kompliment sie eigentlich Christel machen sollte;
denn daß sie es anders anfangen müsse, als ihr
Vater, -war ihr klar. Eine Weile überlegte sie
sogar, ob es nicht ratsam sei, das Versteckspielen
überhaupt aufzugeben, sich in das nächste Ab-
teil zu setzen, Hunder-tmark genau gegenüber,
abzuwarten, ob er sie wied-ererkenne, und ganz
langsam und harmlos mit der Absicht heraus-
zuvücken, daß sie nach Berlin fahre, um Christel
aufzusuchen. Das ergäbe eine Möglichkeit, den
Mann genauer aus der Nähe kennenzuler-nen
Ihr Herz fing zwar etwas an zu Pochen, aber
schon erhob sie sich, um zu sehen, wie die Platz-
verhältnisse im Nebenabtei-l lagen. Der Mantel
des Dr. Hundertmark, der graugemusterte, Hinz
in der Ecks an der Tür; dort lag auch eine Zei-
tung aus dem Platz. Der Platz gegenüber war
noch frei. Wo!

Die alte Dame und -der rundliche Herr wun-
derten sich, als die Tante auf einmal zurück-
kam, ihre Sachen zusammonpackte, und ohne ein
Wort des Abschieds ins nächste Abteil ver-
schwand. Als die Tante auf ihrem neuen Platz
saß, ließ sie zur Vorsicht zunächst einmal den
kleinen Schleier über die Nase fallen, dann
polsterte sie mit dem Pelzmantel wieder die
Ecke aus und versuchte in eine möglichst -gleich-
gültige Stimmung hineinzukommen. Sie tat,
als ob sie sehr müde sei und schloß sich mit
schlafendem Gesich-tsausdruck -gegen -ihre neue
Umwelt ab. So sah sie aus, wie die Vordec-
-anstcht eines Landhauses in der Sonne, -dessen
Fensterläden heruntergelasssn sind.
Bis daß Dr. Hundertmark aus dem Speise-
wagen zurückkam, hatte Lisbeth Zeit, sich ihren
Plan zurechtzulegen. Sie durfte unter keinen
Umständen bekanntgeben, wer sie sei. Auch daß
sie noch vor einigen Stunden bei ihm zur Be-
handlung gewesen, würde sie leugnen, wenn er
sie wiedererkennen sollte, -was allerdings nicht
sehr wahrscheinlich war, da er sie in seiner Woh-
nung -in seiner nervösen Hast kaum angesehen
hatte. Weiter kam sie mit ihrer Ueberlequng
nicht; eher als sie vermutete, betrat Dr. Hun-
Lertmark wieder das Abteil, setzte sich aus seinen
Platz und nahm -gleichgültig, ohne sich umzu-
sehen, eine Zigarette aus seinem Etui. Es schien
ihm gut geschmeckt zu haben; denn Lisbeth be-
obachtete durch ihre leicht geöffneten Augen-
lider, daß er sich sehr wohl fühlie, und -im Ge-
fühl der Sättigung seine Gedanken mit ange-
nehmen Vorstellungen beschäftigte. Sie wartete
noch, bis ein weiterer Mitreisender aus dem
Speisewagen in das Abteil zuvückkam; es war
ein kleiner dürrer Herr, der sich gerne erbot,
auf ihr Gepäck achtzugsben. Lisbeth merkte, wie
Hundevtmark plötzlich aufmerksam wurde, küm-
merte sich über nicht darum und ging, um zu
Mittag zu speisen.
(Fortsetzung folgt.)
 
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