kann, ist es noch nicht so schlimm, als eine, die nicht hören
will.
Etwa zehn Jahre waren dahin gegangen, unser Klub
bestand längst nicht mehr; der Hauptspötter hatte ein „hol-
des Weib errungen", welches ihm wöchentlich nur einen
freien Abend gestattete, andere Mitglieder waren von der
Revolution des Jahres 1848 vertrieben. — Bestand allein
hatte gehalten meine Freundschaft mit dem Langen und seine
Leidenschaft für Wortspiele. Als ich ihm einst sagte: „Du
wirst noch mit einem schlechten Witz in die Ewigkeit einge-
hen," entgegnete er: „Ewigkeit und Eingehen ist ein Wider-
sprach, was ewig ist, kann nicht eingehen."
Nun kam er eines Tages gelaufen und rief mir schon
in der Thür jubelnd entgegen: „Wenn Du jetzt noch ein-
mal meine Calembourgs tadelst, dann" — und er zog einen
großen Brief aus der Tasche und las mir vor:
„Lieber Langer! Endlich komme ich dazu, Dir ein
Liebeszeichen zu senden und Dir den herzlichen Dank zu sa-
gen für den großen Freundschaftsdienst, welchen Du mir
einst erwiesen, als Du mir warnend zuriefst, umzukehren.
Damals hast Du mich vor einem großen Unglück bewahrt;
mit Grauen denke ich daran, was entstanden wäre, wenn ich
mich an die Taube, hätte anschmiegen müssen. Jetzt hat sich
ein wackeres liebevolles Weib für mich gefunden, ich bin
glücklicher Vater dreier gesunder Kinder und stehe längst in
Amt und Würden. Seit sieben Jahren praktizire ich als
Arzt (hier in Amerika kann jeder Apotheker ein Dokter wer-
den) und habe ein sehr gutes Auskommen, bin auch so stolz
auf meine Erfolge, daß ich jede Kur unternehme. Ja, wenn
wir uns Wiedersehen, will ich gern dein Leibarzt werden,
nur von Deiner Kalauerei heilte ich Dich nicht, denn diese
ist mir trefflich zu Statten gekommen; möge sie noch man-
chen Anderen Segen bringen, meine Frau und ich betrachten
jenen Abend in der Kneipe als den Augenblick des Glücks,
und Fanny (sie ist eine Deutsche) singt Kreutzers schöne Arie
oft zum Klavier."
Soweit las er mir den Brief vor, und soweit hatte ich
meine Geschichte in einer Theegesellschaft erzählt, als eine
der aufmerksamsten Zuhörerinnen fragte: „Wer hat die No-
velle geschrieben?"
„Verzeihen Sie, gnädige Frau," entgegnete ich, „es ist
keine Novelle sondern ein Erlebniß." Mit dieser Enthüllung
die ich bis zuletzt aufgespart, glaubte ich, einen guten Schluß
zu machen, aber das gerade Gegentheil war der Fall, die
Damen machten lange Gesichter. „Zweifeln Sie," rief ich,
„so will ich Ihnen den amerikanischen Brief mitbringen, er
hat den Poststempel aus Iowa City, der Hauptstadt des
gleichnamigen Staates." — „Nicht doch," lautete die Ant-
wort, „wir meinev nur, wenn eine Geschichte den Charakter
einer Novelle hat, so muß sie auch eine solche sein."
Jetzt wußte ich, wie die Damenwelt zwischen Wahrbeit
und Dichtung unterscheidet. Wahre Geschichten interessi-
ren sie nur dann, wenn sie die handelnden Personen ken-
nen und dieselben gründlich herunterreißen können . . . fff?
- Wie Kurzsichtigkeit. UM
Ueber die Ursache und das Wesen der Kurzsichtigkeit
gehen von jeher die Ansichten der Fachgelehrten weit aus-
einander; während man früher die Kurzsichtigkeit meist für
eine krankhafte Veränderung des Auges hielt, macht sich
neuerdings mehr die Anschauung geltend, daß es bei der
Kurzsichtigkeit sich um eine anthropologische Deformität, eine
durchaus noch im Gebiet der Gesundheit liegende Abweichung
vom Gewöhnlichen handelt. Einer der eifrigsten Vertheidiger
dieser Auffassung ist der bekannte Straßburger Augenarzt
Prof. Dr. I. Sttlling. Durch eine große Reihe von Unter-
suchungen, die er an solchen Personen anstellte, welche durch
langdauernde und anstrengende Nahearbeit kurzsichtig gewor-
den sind, wie Professoren, Docenten, Aerzten, Studenten und
Schülern höherer Lehranstalten, ist Stilling zu dem überra-
schenden Ergebniß gekommen, daß die Entstehung der Kurz-
sichtigkeit im Wesentlichen von drei Ursachen abhängig ist:
vom Bau der Augenhöhle, von der Bildung des Schädels
und von der Raceneigenthümlichkeit. Man unterscheidet die
Formen der Augenhöhle als hohe und niedrige. Nach Stil-
lings Messungen ist nun bei Kurzsichtigen die Gestalt der
Augenhöhle von der der Normal- und Weitsichtigen außer-
ordentlich verschieden, indem die erstere sowohl im Höhen-
wie im Breitendurchmesser vom Gewöhnlichen abweicht; bei
Kurzsichtigen ist die Augenhöhle breit und niedrig, bei Weit-
und Normalsichtigen hoch und schmal. Diese durch Unter-
suchungen an Erwachsenen gewonnenen Resultate wurden auch
bestätigt durch Messungen an den Schülern des Straßburger
Lehrerseminars, des protestantischen Gymnasiums und des
Lyceums, mit dem einzigen Unterschiede, daß bei den letzteren
der atypische Bau der Augenhöhle noch nicht vollkommen ent-
wickelt sich zeigte, doch bereits fast immer so weit ausgebildet
war, daß Stilling mit der größten Wahrscheinlichkeit in der
Mehrzahl der Fälle glaubt vorausbestimmen zu können, ob
ein Schüler der unteren Klassen im späteren Verlauf seiner
Schuljahre kurzsichtig werden wird oder nicht. Es leuchtet
ein, von welch großer praktischer Bedeutung diese frühzeitige
Erkenntniß ist. — In Bezug auf den Bau des Gesichts-
schädels unterscheidet man Breitgesichter und Schmalgesichter.
Zahlreiche Messungen Stillings beweisen nun unwiderleglich,
daß die Breitsichtigkeit zur Myopie (Kurzsichtigkeit) hinneigt,
die Schmalgesichtigkeit dagegen zur Hypermetropie (Uebersich-
tigkeit). Doch ist der Einfluß des Schädelbaues auf die
Sehstörungen nicht von der Bedeutung wie die Form der
Augenhöhle. — Von der Rasseneigenthümlichkeit ist die Ent-
stehung der Kurzsichtigkeit zunächst insofern abhängig, als
einzelne Volksstämme eben jenen geschilderten atypischen Schä-
delbau haben. So ist bekannt, daß die slavischen Rassen
mehr zur Breitsichtigkeit neigen als die germanischen, bei
vielen russischen Völkerschaften ist sie geradezu charakteristisch.
Auch in Deutschland sieht man z. B. in den ostpreußischen
Provinzen, in denen notorisch eine starke Mischung mit Sla-
ven stattgefunden hat, viele Breitgesichter. In England da-
gegen, wohl auch bei englischen Amerikanern sieht man viele
Langgesichter. Damit stimmt nun überraschend das Resultat
früherer statistischer Arbeiten überein, bei denen auffallend
viele Kurzsichtige in Rußland, dagegen außerordentlich wenig
in England gefunden worden sind. Erismann fand in St.
Petersburg unter den russischen Schülern mehr Myopen als
unter den deutschen, Collard mehr unter den deutschen als
unter den holländischen Studenten der Universität Utrecht,
Loring und Derby fanden in Newyork am meisten Myopen
unter den deutschen Kindern, weniger unter den amerikani-
schen, noch weniger unter den irländischen. Noch beweisender
sind Stillings Erhebungen unter der elsässischen Bevölkerung,
die zwar an und für sich keinm einheitlichen Typus darstellt,
aber doch seit langer Zeit sich sehr wenig mit anderen ver-
mischt hat. Im Lyceum zu Straßburg sind 25 pCt. Elsässer
und 38 pCt. Deutsche kurzsichtig. Aehnlich liegen die Ver-
hältnisse auch in allen anderen Schulen der Stadt. Am
meisten sind in angedeuteter Richtung ausgezeichnet jdie Alt-
preußen, danach die Sachsen und Bayern. Durch den Nach-
weis, daß die eigentliche Ursache der Kurzsichtigkeit nicht in
der Ueberanstrengung der Augen, sondern in den Verhält-
nisten des Schädelbaues zu suchen ist, werden die höheren
Schulen von dem unendlich oft wiederholten Vorwurf mt-
lastet, daß sie die Pflegstätten der Kurzsichtigkeit seien. Ebenso
hinfällig wird die weit verbreitete Krrcht, daß die Völker
mit fortschreitender Cultur an Sehkraft immer mehr einbüßen
würden. Hinsichtlich der Bekämpfung der Kurzsichtigkeit aber
werden wir durch Stilling's Untersuchungen auf den Weg
der Prophylaxe (Vorbeugung) gewiesen, welche den gefährde-
ten Schülern der niederen Schulklassen zu theil werden muß.
Der wilde Jäger.
Vor einem Münchener Gericht erschien ein Mann, der
von allen Seiten angestaunt wurde. Derselbe ist bereits 60
Jahre alt, mit graumelirten blonden Haaren, einem mächti-
gen Schnauzbart, die Augen sind von starren buschigen
Brauen völlig überschattet, über den Schultern hängt ein
verwitterter rauher Lodenmantel, der je nach der Jahreszeit
als Unterbett oder Decke Dienste leisten muß, dagegen ist
die hirschlederne Kniehose mit weiß und grüner Seide aus-
genäht und schön geschwärzt, fast elegant und zwischen ihr
und grobwollenen Wadenstrümpfen sehen die nackten sehnigen
Knie wie knorrige Eichenwurzeln hervor. Die Füße stecken
in eisenbeschlagenen rindsledernen Halbstiefeln, in der rechten
Hand hält der Mann einen Filz ohne jedwede Facon, der
mit einer Auerhahnfeder, Adlerflaum und einem Gamsbart-
büschel geziert ist. Der Mann hält den Gerichtsboten für
die maßgebende Persönlichkeit im Saale und bemerkt gegen
denselben: Gelt! Wenn wir Zwoa anfanga, na thuast an
Forschtner zuerst auße, der braucht net z'lus'n, was mir aus-
macha.
Richter, welcher eine besondere Fertigkeit im Umgänge
mit den Landleuten hat: Soooo Sepp; da kimm nur herer,
'n Forschtner hör'n mir scho' extra an. Jetz'n sag' a mal
wia kimmst'n Du alter Kerl no' dazu«, zum Wildern 'naus
zgeh'n?
Angeklagter (erstaunt): Schaug, Du bist ja gar net
z'wider, von Dir mog i' an alt'n Kerl hö'rn, is' der Loder
selm älter wia i'. Meiner Six i' hob gor net g'laubt, daß
wahr is', daß mi wegen Wildern anzoagt Ham.
Richter: Hast nacher d' Anklagschrift net g'les'n, de Du
kriegt hast? Da steht Alls genau drinn.
Angeklagter: Lesen moanst kann i' ? Na moin Liaber!
als Goasbua auf der Alm und später als a Holzknecht in
de Berg, da lernt Koaner 's Lesen. I war a ledigs Kind
und 'm Hinteijochner seine drei Buam san net a mal in d'
Schul ganga, is a Bauer g'wen mit zwoa Alma u. dreißg
Stückl Vieh. Dös war damals was für die Herrischen.
Wia der Schandarm den Zettl bracht hat, na hab i n' glei
in d' Schmalzlerblattern eini, daß er net dernäßt u. Abends
im Hoangar'n ha'n mir der Lenz vorgle'n. Der kann aber
'S G'schriebene aa net extraguet lesn und na hat mir vierzecha
Tag später der Schullehrer die Gschicht auskerndlt, wia mer
wieder hoam kemma san.
Richter: Stell Di nur net so einfältig. Du bist am
12. Juli in der Sonnenleitn vom Förster unter an Baum
schlafend troffa wordn und da hast Du a Abschraubgwehr,
a Sackl mit Pulver und Blei und Pfropfn bei Dir ghabt.
Moanst vielleicht wir glauben, dnß Du damit zum Fliegen-
sanga naus bist?
Angeklagter: Ja, wenn i Di dortn io treffat, na moa-
net i glei, daß Du nixn dazwischen thuast und wennst an
Regenschirm dabei hast, na mueß no lang net grob Wetter
sein. Also thun mer net lang ummazetteln. I bin a Holz-
knecht und mueß schwaar arbetn. I brauch alli Woche drei
Pfund Schmalz, was net schlecht glebt is, aber alleweil an
Schmarrn und alleweil a Sterz. Bua dös wird Dir so fad,
da bleibest in Himmi net. Na, sog'n meine Kamerad'm
Sepp! Bist a Loadschwanz a trauriger, d' Leut hoaß'n Di
an wildn Jaga, derweil lebst von die Heuschreckn wia der
heilige Johann«?. Geh « «al in d' Eonnaleitn mnma, da
gibts mehr Rehböck wia Mäus, na kriegn mer a mal a
Fleisch und gnua aa. I' laß mi koan Treanzer hvaßn,
nehm an Stutzn und geh. Gschossn hab i nix, troffa hab i
nix, hungri und müed bin i worn, jetzt hab i mein Krona-
witter z' leichen gnomma, hab mi untern Baum glegt und
gschlafa. Glei drauf kimmt der Forschtner, nimmt n Stutzn
weg und macht a Gschroa, daß grausli war. Da kann i
doch net eingspirrt wern, wenn i im Wald ummanander renn
und schieß nixn. Wenn Oaner hungri vorn Bäcker vorbei-
lauft, na hat er no lang koan Semmi gstohln.
Richter: Verstell Di nur net so, alter Lump. Du hoaßt
net umsonst der wild Jaga. Du hast schon mehrer Hirschen
gschossn als viele zahme Jaga mitanander. Gelt beim Holz-
arbeiten hast zwoa Markt im Tag? Wie kimmts denn, daß
D nachher so a ganz neue, sauberne Lederhosen heut trägst?
I moan alleweil, da hast 'n Stoff selber dazua gliefert, Du
Malefizloder.
Angeklagter: Hast ghört! 's Hösei is mein und ob i
n kauft oder leicht gar von ner Moid g'schenkter hob, sell is
wieder mein' Sach. I' Han scho' a neuchs Pfaod aa, und
wer 'n Flachs dazua baut hat, geht mi' nixn an. Mit
Deine Hirsch'n g'freust mi' dengerscht recht, da war'n im
Sommer Bergkraxler vo' Münka in unserer Hütt'n über
Nacht, Du kennst die Loder, die moan bei uns brauchst nur
a Hakerl mit 'n Finger z'macha, na' hängt a Hirsch oder a
Gamsbock dran. Da bin i a zwanzgmal außa bei der Nacht
und hab an Brunstschroa nachg'macht So viel Schnaps und
Kaffee hab'n mir no' nia trunka, wia mit dene damischen
Loder, derweil hätt' dort'n Koaner a Oachkatzl z'treffe
g'wußt.
Richter: Woher is denn nachher das Abschraubgewehr
und die Munition kemma, wenn's in Deiner Holzhütten so
solid zugeht?
Angeklagter: Der Stutz'n? Da moanst leicht, den hat
ma' nur zum Wildpretschieß'n? Na, mein Liaber ! Da geh'n
mer Scheib'nschieß'n, dös is' lustig«. Den Stutz'n Han l'
vor a dreiß'g Jahrln in Tölz kauft um zwoa Guld'n. Hat
der Tandler g'sagt: „Bua, dös ischt a bluatg'weichter, mit
dem san anno Neune d'Tiroler über d'Scharnitz g'jagt wor'n",
und guet is er, meiner Söll, nur kenna mueßt eahm, sunst
is bei jeden Schuß a Stockzahnl furt. Daß mern'n abschrau-
ben kann, sell woaß i' gar net.
Der vernommene Förster deponirte, daß der wilde Jäger
als Wilderer im höchsten Verdachte stände, daß derselbe aber
trotz sorgfältigster uud schärfster Ueberwachung nie zu er-
wischen war. Gerade der Zufall hätte es gefügt, daß er
selbst ihn im Forste ertappte, als derselbe, mit Gewehr und
Schießzeug versehen, im Schnapstaumel schlummerte. Nun
begann der Staatsanwalt eine bittere Philippika über das
Treiben der Wilderer in den Bergen, und der Angeklagte
hörte mit einer Beifall bezeigenden Miene aufmerksam zu.
Mit Schluß des Plaidoyers sprach der Präsident: „Was
sagst jetz'n Sepp ? Hast den Herrn Staatsanwalt verstanden ?"
Der Sepp nahm zuerst eine Riesenprise von zwei ausge-
streckten Fingern herunter und sagte darauf: „Bluet von der
Gams! Bua, der kann Dir schmatz'n! Da is unser Expositi
der Neambt! Der hat woldenr aa a geischtli's Studi?"
Im Publikum wie am Richtertisch konnte Niemand mehr das
Lachen verbeißen.
Richter: Er moant aber, daß mer Di' drei Monat ein-
spirr'n sollt wegen Deiner Wilderei!
Angeklagter: Sei doch net narrisch, eing'spirrt werd'«
d'Spitzbuam und sölchene Halodri! Aber an Sepp, an Holz-
knecht, den kannst net hieseln. Was that'n i' eing'fpirrter?
Und Du hältst nixn davon. — DaS darauf verkündete Urtheil
lautete auf acht Tage Gefängniß, Einziehung des Gewehres
und der Mnnittvn. Die milde Strafe ncchm der AngeWgte
will.
Etwa zehn Jahre waren dahin gegangen, unser Klub
bestand längst nicht mehr; der Hauptspötter hatte ein „hol-
des Weib errungen", welches ihm wöchentlich nur einen
freien Abend gestattete, andere Mitglieder waren von der
Revolution des Jahres 1848 vertrieben. — Bestand allein
hatte gehalten meine Freundschaft mit dem Langen und seine
Leidenschaft für Wortspiele. Als ich ihm einst sagte: „Du
wirst noch mit einem schlechten Witz in die Ewigkeit einge-
hen," entgegnete er: „Ewigkeit und Eingehen ist ein Wider-
sprach, was ewig ist, kann nicht eingehen."
Nun kam er eines Tages gelaufen und rief mir schon
in der Thür jubelnd entgegen: „Wenn Du jetzt noch ein-
mal meine Calembourgs tadelst, dann" — und er zog einen
großen Brief aus der Tasche und las mir vor:
„Lieber Langer! Endlich komme ich dazu, Dir ein
Liebeszeichen zu senden und Dir den herzlichen Dank zu sa-
gen für den großen Freundschaftsdienst, welchen Du mir
einst erwiesen, als Du mir warnend zuriefst, umzukehren.
Damals hast Du mich vor einem großen Unglück bewahrt;
mit Grauen denke ich daran, was entstanden wäre, wenn ich
mich an die Taube, hätte anschmiegen müssen. Jetzt hat sich
ein wackeres liebevolles Weib für mich gefunden, ich bin
glücklicher Vater dreier gesunder Kinder und stehe längst in
Amt und Würden. Seit sieben Jahren praktizire ich als
Arzt (hier in Amerika kann jeder Apotheker ein Dokter wer-
den) und habe ein sehr gutes Auskommen, bin auch so stolz
auf meine Erfolge, daß ich jede Kur unternehme. Ja, wenn
wir uns Wiedersehen, will ich gern dein Leibarzt werden,
nur von Deiner Kalauerei heilte ich Dich nicht, denn diese
ist mir trefflich zu Statten gekommen; möge sie noch man-
chen Anderen Segen bringen, meine Frau und ich betrachten
jenen Abend in der Kneipe als den Augenblick des Glücks,
und Fanny (sie ist eine Deutsche) singt Kreutzers schöne Arie
oft zum Klavier."
Soweit las er mir den Brief vor, und soweit hatte ich
meine Geschichte in einer Theegesellschaft erzählt, als eine
der aufmerksamsten Zuhörerinnen fragte: „Wer hat die No-
velle geschrieben?"
„Verzeihen Sie, gnädige Frau," entgegnete ich, „es ist
keine Novelle sondern ein Erlebniß." Mit dieser Enthüllung
die ich bis zuletzt aufgespart, glaubte ich, einen guten Schluß
zu machen, aber das gerade Gegentheil war der Fall, die
Damen machten lange Gesichter. „Zweifeln Sie," rief ich,
„so will ich Ihnen den amerikanischen Brief mitbringen, er
hat den Poststempel aus Iowa City, der Hauptstadt des
gleichnamigen Staates." — „Nicht doch," lautete die Ant-
wort, „wir meinev nur, wenn eine Geschichte den Charakter
einer Novelle hat, so muß sie auch eine solche sein."
Jetzt wußte ich, wie die Damenwelt zwischen Wahrbeit
und Dichtung unterscheidet. Wahre Geschichten interessi-
ren sie nur dann, wenn sie die handelnden Personen ken-
nen und dieselben gründlich herunterreißen können . . . fff?
- Wie Kurzsichtigkeit. UM
Ueber die Ursache und das Wesen der Kurzsichtigkeit
gehen von jeher die Ansichten der Fachgelehrten weit aus-
einander; während man früher die Kurzsichtigkeit meist für
eine krankhafte Veränderung des Auges hielt, macht sich
neuerdings mehr die Anschauung geltend, daß es bei der
Kurzsichtigkeit sich um eine anthropologische Deformität, eine
durchaus noch im Gebiet der Gesundheit liegende Abweichung
vom Gewöhnlichen handelt. Einer der eifrigsten Vertheidiger
dieser Auffassung ist der bekannte Straßburger Augenarzt
Prof. Dr. I. Sttlling. Durch eine große Reihe von Unter-
suchungen, die er an solchen Personen anstellte, welche durch
langdauernde und anstrengende Nahearbeit kurzsichtig gewor-
den sind, wie Professoren, Docenten, Aerzten, Studenten und
Schülern höherer Lehranstalten, ist Stilling zu dem überra-
schenden Ergebniß gekommen, daß die Entstehung der Kurz-
sichtigkeit im Wesentlichen von drei Ursachen abhängig ist:
vom Bau der Augenhöhle, von der Bildung des Schädels
und von der Raceneigenthümlichkeit. Man unterscheidet die
Formen der Augenhöhle als hohe und niedrige. Nach Stil-
lings Messungen ist nun bei Kurzsichtigen die Gestalt der
Augenhöhle von der der Normal- und Weitsichtigen außer-
ordentlich verschieden, indem die erstere sowohl im Höhen-
wie im Breitendurchmesser vom Gewöhnlichen abweicht; bei
Kurzsichtigen ist die Augenhöhle breit und niedrig, bei Weit-
und Normalsichtigen hoch und schmal. Diese durch Unter-
suchungen an Erwachsenen gewonnenen Resultate wurden auch
bestätigt durch Messungen an den Schülern des Straßburger
Lehrerseminars, des protestantischen Gymnasiums und des
Lyceums, mit dem einzigen Unterschiede, daß bei den letzteren
der atypische Bau der Augenhöhle noch nicht vollkommen ent-
wickelt sich zeigte, doch bereits fast immer so weit ausgebildet
war, daß Stilling mit der größten Wahrscheinlichkeit in der
Mehrzahl der Fälle glaubt vorausbestimmen zu können, ob
ein Schüler der unteren Klassen im späteren Verlauf seiner
Schuljahre kurzsichtig werden wird oder nicht. Es leuchtet
ein, von welch großer praktischer Bedeutung diese frühzeitige
Erkenntniß ist. — In Bezug auf den Bau des Gesichts-
schädels unterscheidet man Breitgesichter und Schmalgesichter.
Zahlreiche Messungen Stillings beweisen nun unwiderleglich,
daß die Breitsichtigkeit zur Myopie (Kurzsichtigkeit) hinneigt,
die Schmalgesichtigkeit dagegen zur Hypermetropie (Uebersich-
tigkeit). Doch ist der Einfluß des Schädelbaues auf die
Sehstörungen nicht von der Bedeutung wie die Form der
Augenhöhle. — Von der Rasseneigenthümlichkeit ist die Ent-
stehung der Kurzsichtigkeit zunächst insofern abhängig, als
einzelne Volksstämme eben jenen geschilderten atypischen Schä-
delbau haben. So ist bekannt, daß die slavischen Rassen
mehr zur Breitsichtigkeit neigen als die germanischen, bei
vielen russischen Völkerschaften ist sie geradezu charakteristisch.
Auch in Deutschland sieht man z. B. in den ostpreußischen
Provinzen, in denen notorisch eine starke Mischung mit Sla-
ven stattgefunden hat, viele Breitgesichter. In England da-
gegen, wohl auch bei englischen Amerikanern sieht man viele
Langgesichter. Damit stimmt nun überraschend das Resultat
früherer statistischer Arbeiten überein, bei denen auffallend
viele Kurzsichtige in Rußland, dagegen außerordentlich wenig
in England gefunden worden sind. Erismann fand in St.
Petersburg unter den russischen Schülern mehr Myopen als
unter den deutschen, Collard mehr unter den deutschen als
unter den holländischen Studenten der Universität Utrecht,
Loring und Derby fanden in Newyork am meisten Myopen
unter den deutschen Kindern, weniger unter den amerikani-
schen, noch weniger unter den irländischen. Noch beweisender
sind Stillings Erhebungen unter der elsässischen Bevölkerung,
die zwar an und für sich keinm einheitlichen Typus darstellt,
aber doch seit langer Zeit sich sehr wenig mit anderen ver-
mischt hat. Im Lyceum zu Straßburg sind 25 pCt. Elsässer
und 38 pCt. Deutsche kurzsichtig. Aehnlich liegen die Ver-
hältnisse auch in allen anderen Schulen der Stadt. Am
meisten sind in angedeuteter Richtung ausgezeichnet jdie Alt-
preußen, danach die Sachsen und Bayern. Durch den Nach-
weis, daß die eigentliche Ursache der Kurzsichtigkeit nicht in
der Ueberanstrengung der Augen, sondern in den Verhält-
nisten des Schädelbaues zu suchen ist, werden die höheren
Schulen von dem unendlich oft wiederholten Vorwurf mt-
lastet, daß sie die Pflegstätten der Kurzsichtigkeit seien. Ebenso
hinfällig wird die weit verbreitete Krrcht, daß die Völker
mit fortschreitender Cultur an Sehkraft immer mehr einbüßen
würden. Hinsichtlich der Bekämpfung der Kurzsichtigkeit aber
werden wir durch Stilling's Untersuchungen auf den Weg
der Prophylaxe (Vorbeugung) gewiesen, welche den gefährde-
ten Schülern der niederen Schulklassen zu theil werden muß.
Der wilde Jäger.
Vor einem Münchener Gericht erschien ein Mann, der
von allen Seiten angestaunt wurde. Derselbe ist bereits 60
Jahre alt, mit graumelirten blonden Haaren, einem mächti-
gen Schnauzbart, die Augen sind von starren buschigen
Brauen völlig überschattet, über den Schultern hängt ein
verwitterter rauher Lodenmantel, der je nach der Jahreszeit
als Unterbett oder Decke Dienste leisten muß, dagegen ist
die hirschlederne Kniehose mit weiß und grüner Seide aus-
genäht und schön geschwärzt, fast elegant und zwischen ihr
und grobwollenen Wadenstrümpfen sehen die nackten sehnigen
Knie wie knorrige Eichenwurzeln hervor. Die Füße stecken
in eisenbeschlagenen rindsledernen Halbstiefeln, in der rechten
Hand hält der Mann einen Filz ohne jedwede Facon, der
mit einer Auerhahnfeder, Adlerflaum und einem Gamsbart-
büschel geziert ist. Der Mann hält den Gerichtsboten für
die maßgebende Persönlichkeit im Saale und bemerkt gegen
denselben: Gelt! Wenn wir Zwoa anfanga, na thuast an
Forschtner zuerst auße, der braucht net z'lus'n, was mir aus-
macha.
Richter, welcher eine besondere Fertigkeit im Umgänge
mit den Landleuten hat: Soooo Sepp; da kimm nur herer,
'n Forschtner hör'n mir scho' extra an. Jetz'n sag' a mal
wia kimmst'n Du alter Kerl no' dazu«, zum Wildern 'naus
zgeh'n?
Angeklagter (erstaunt): Schaug, Du bist ja gar net
z'wider, von Dir mog i' an alt'n Kerl hö'rn, is' der Loder
selm älter wia i'. Meiner Six i' hob gor net g'laubt, daß
wahr is', daß mi wegen Wildern anzoagt Ham.
Richter: Hast nacher d' Anklagschrift net g'les'n, de Du
kriegt hast? Da steht Alls genau drinn.
Angeklagter: Lesen moanst kann i' ? Na moin Liaber!
als Goasbua auf der Alm und später als a Holzknecht in
de Berg, da lernt Koaner 's Lesen. I war a ledigs Kind
und 'm Hinteijochner seine drei Buam san net a mal in d'
Schul ganga, is a Bauer g'wen mit zwoa Alma u. dreißg
Stückl Vieh. Dös war damals was für die Herrischen.
Wia der Schandarm den Zettl bracht hat, na hab i n' glei
in d' Schmalzlerblattern eini, daß er net dernäßt u. Abends
im Hoangar'n ha'n mir der Lenz vorgle'n. Der kann aber
'S G'schriebene aa net extraguet lesn und na hat mir vierzecha
Tag später der Schullehrer die Gschicht auskerndlt, wia mer
wieder hoam kemma san.
Richter: Stell Di nur net so einfältig. Du bist am
12. Juli in der Sonnenleitn vom Förster unter an Baum
schlafend troffa wordn und da hast Du a Abschraubgwehr,
a Sackl mit Pulver und Blei und Pfropfn bei Dir ghabt.
Moanst vielleicht wir glauben, dnß Du damit zum Fliegen-
sanga naus bist?
Angeklagter: Ja, wenn i Di dortn io treffat, na moa-
net i glei, daß Du nixn dazwischen thuast und wennst an
Regenschirm dabei hast, na mueß no lang net grob Wetter
sein. Also thun mer net lang ummazetteln. I bin a Holz-
knecht und mueß schwaar arbetn. I brauch alli Woche drei
Pfund Schmalz, was net schlecht glebt is, aber alleweil an
Schmarrn und alleweil a Sterz. Bua dös wird Dir so fad,
da bleibest in Himmi net. Na, sog'n meine Kamerad'm
Sepp! Bist a Loadschwanz a trauriger, d' Leut hoaß'n Di
an wildn Jaga, derweil lebst von die Heuschreckn wia der
heilige Johann«?. Geh « «al in d' Eonnaleitn mnma, da
gibts mehr Rehböck wia Mäus, na kriegn mer a mal a
Fleisch und gnua aa. I' laß mi koan Treanzer hvaßn,
nehm an Stutzn und geh. Gschossn hab i nix, troffa hab i
nix, hungri und müed bin i worn, jetzt hab i mein Krona-
witter z' leichen gnomma, hab mi untern Baum glegt und
gschlafa. Glei drauf kimmt der Forschtner, nimmt n Stutzn
weg und macht a Gschroa, daß grausli war. Da kann i
doch net eingspirrt wern, wenn i im Wald ummanander renn
und schieß nixn. Wenn Oaner hungri vorn Bäcker vorbei-
lauft, na hat er no lang koan Semmi gstohln.
Richter: Verstell Di nur net so, alter Lump. Du hoaßt
net umsonst der wild Jaga. Du hast schon mehrer Hirschen
gschossn als viele zahme Jaga mitanander. Gelt beim Holz-
arbeiten hast zwoa Markt im Tag? Wie kimmts denn, daß
D nachher so a ganz neue, sauberne Lederhosen heut trägst?
I moan alleweil, da hast 'n Stoff selber dazua gliefert, Du
Malefizloder.
Angeklagter: Hast ghört! 's Hösei is mein und ob i
n kauft oder leicht gar von ner Moid g'schenkter hob, sell is
wieder mein' Sach. I' Han scho' a neuchs Pfaod aa, und
wer 'n Flachs dazua baut hat, geht mi' nixn an. Mit
Deine Hirsch'n g'freust mi' dengerscht recht, da war'n im
Sommer Bergkraxler vo' Münka in unserer Hütt'n über
Nacht, Du kennst die Loder, die moan bei uns brauchst nur
a Hakerl mit 'n Finger z'macha, na' hängt a Hirsch oder a
Gamsbock dran. Da bin i a zwanzgmal außa bei der Nacht
und hab an Brunstschroa nachg'macht So viel Schnaps und
Kaffee hab'n mir no' nia trunka, wia mit dene damischen
Loder, derweil hätt' dort'n Koaner a Oachkatzl z'treffe
g'wußt.
Richter: Woher is denn nachher das Abschraubgewehr
und die Munition kemma, wenn's in Deiner Holzhütten so
solid zugeht?
Angeklagter: Der Stutz'n? Da moanst leicht, den hat
ma' nur zum Wildpretschieß'n? Na, mein Liaber ! Da geh'n
mer Scheib'nschieß'n, dös is' lustig«. Den Stutz'n Han l'
vor a dreiß'g Jahrln in Tölz kauft um zwoa Guld'n. Hat
der Tandler g'sagt: „Bua, dös ischt a bluatg'weichter, mit
dem san anno Neune d'Tiroler über d'Scharnitz g'jagt wor'n",
und guet is er, meiner Söll, nur kenna mueßt eahm, sunst
is bei jeden Schuß a Stockzahnl furt. Daß mern'n abschrau-
ben kann, sell woaß i' gar net.
Der vernommene Förster deponirte, daß der wilde Jäger
als Wilderer im höchsten Verdachte stände, daß derselbe aber
trotz sorgfältigster uud schärfster Ueberwachung nie zu er-
wischen war. Gerade der Zufall hätte es gefügt, daß er
selbst ihn im Forste ertappte, als derselbe, mit Gewehr und
Schießzeug versehen, im Schnapstaumel schlummerte. Nun
begann der Staatsanwalt eine bittere Philippika über das
Treiben der Wilderer in den Bergen, und der Angeklagte
hörte mit einer Beifall bezeigenden Miene aufmerksam zu.
Mit Schluß des Plaidoyers sprach der Präsident: „Was
sagst jetz'n Sepp ? Hast den Herrn Staatsanwalt verstanden ?"
Der Sepp nahm zuerst eine Riesenprise von zwei ausge-
streckten Fingern herunter und sagte darauf: „Bluet von der
Gams! Bua, der kann Dir schmatz'n! Da is unser Expositi
der Neambt! Der hat woldenr aa a geischtli's Studi?"
Im Publikum wie am Richtertisch konnte Niemand mehr das
Lachen verbeißen.
Richter: Er moant aber, daß mer Di' drei Monat ein-
spirr'n sollt wegen Deiner Wilderei!
Angeklagter: Sei doch net narrisch, eing'spirrt werd'«
d'Spitzbuam und sölchene Halodri! Aber an Sepp, an Holz-
knecht, den kannst net hieseln. Was that'n i' eing'fpirrter?
Und Du hältst nixn davon. — DaS darauf verkündete Urtheil
lautete auf acht Tage Gefängniß, Einziehung des Gewehres
und der Mnnittvn. Die milde Strafe ncchm der AngeWgte