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https://doi.org/10.11588/diglit.8922#0151
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XXXVI.
DER FALL
DES
I C A R U S.
Cum puer audact cxplt gaudere volatu,
Deferuitque dücem* ccelique cupidine taclus
Altius egit her. Rapidi vicinia solis
Mollk odoratas pennarum vincula ceras:
Tabuerant certe; nudos quatit ille lacertos^
Remigioque carens non ullas concipit auras:
Oraque caerulea patrium clamantia nomen
Exciptuntur aquä^ qu<z nomen traxit ab Mo.
O v i d. Met. 8. vs. 223. feqq.
/Edalus war feiner lang wierigen Pilgrimfchafc liberdrussig und ver-
langte herzlich, fein Vater-Land einmahl wiederum zu fehen: wenn
ihm nur nicht das Meer, welches rund um die Infel Creta herum
gieng, verhinderlich gewesen wäre. Wiewohl diefe Hinderung,
welche niemand anders hatte uberwinden können, ihm dennoch
nicht zu fchwehr war. „ Wenn Minos, fprach er eines Tages, mir alle Aus^an-
„ ge zu Walter und Lande benimmt, fo kan er mir doch den "Weg durch die Luft
„ nicht verbiethen: wohlan! ich will veriuchen , ob ich nicht durch felbige hin-
„ durch reifen und mich folcher Geftalt feiner Gewalt entreißen kan." Nachdem
er nun eine Zeit lang den Einfall fothaner ganz neuen Erfindung mit fich felbst
überleget hatte, fo nahm er Federn und befeftigte die kleinen mit Bindsaden an
einander, die grofen aber klebte er mit Wachs zufammen und machte lblche Flü-
gel daraus, wie die Vogel haben. Als er nun mit diefer feiner Arbeit sertig war,
ftellte er eine Probe an und als er damit in der Luft herum flatterte , redete er lei-
nen Sohn alfo an: „ Siehe dich wohl vor, Mein Sohn Icarus , dals du fein alle-
„ mahl in der mittlereren Luft bleibeft. Denn komeft du zu tief, fo werden dei-
„ ne Flügel durch die Feuchtigkeit fchwer werden j und wenn du dich zu hoch
„ fchwingeft, fo wird fie die Sonne verfengen. Hute dich also wohl vor diefen
„ zwey Abwegen und folge mir nur immer nach." Hierauf macht er ihm die
vor ihn zubereiteten Flügel, wiewohl nicht ohne Furcht und Thränen , an, und
lehret ihn , wie er es damit machen foli, nach diefem kuflet er ihn zum lezten
mahle, fanget an zu fliegen, und weifet ihm den weg: nicht anders als ein Vogel,
der feine Jungen zum erften mahle aus dem Nefte führet. Er fpricht ihm ein
Herz ein , dafs er ihm folgen folle , und weil er mehr vor feines Sohnes , als fein
eignes Leben in Sorgen ift, fo flehet er beftandig auf ihn zurück, und unterweifec
ihn in der gesahrlichen Kunft zu fliegen. Wer fie nur in der Luft gewahr wurde,
hielte sie vor Gotter: die erfchrocknen Fischer hielten sich an ihre Angel-Ruthe,
die
XXXVI.
DER FALL
DES
I C A R U S.
Cum puer audact cxplt gaudere volatu,
Deferuitque dücem* ccelique cupidine taclus
Altius egit her. Rapidi vicinia solis
Mollk odoratas pennarum vincula ceras:
Tabuerant certe; nudos quatit ille lacertos^
Remigioque carens non ullas concipit auras:
Oraque caerulea patrium clamantia nomen
Exciptuntur aquä^ qu<z nomen traxit ab Mo.
O v i d. Met. 8. vs. 223. feqq.
/Edalus war feiner lang wierigen Pilgrimfchafc liberdrussig und ver-
langte herzlich, fein Vater-Land einmahl wiederum zu fehen: wenn
ihm nur nicht das Meer, welches rund um die Infel Creta herum
gieng, verhinderlich gewesen wäre. Wiewohl diefe Hinderung,
welche niemand anders hatte uberwinden können, ihm dennoch
nicht zu fchwehr war. „ Wenn Minos, fprach er eines Tages, mir alle Aus^an-
„ ge zu Walter und Lande benimmt, fo kan er mir doch den "Weg durch die Luft
„ nicht verbiethen: wohlan! ich will veriuchen , ob ich nicht durch felbige hin-
„ durch reifen und mich folcher Geftalt feiner Gewalt entreißen kan." Nachdem
er nun eine Zeit lang den Einfall fothaner ganz neuen Erfindung mit fich felbst
überleget hatte, fo nahm er Federn und befeftigte die kleinen mit Bindsaden an
einander, die grofen aber klebte er mit Wachs zufammen und machte lblche Flü-
gel daraus, wie die Vogel haben. Als er nun mit diefer feiner Arbeit sertig war,
ftellte er eine Probe an und als er damit in der Luft herum flatterte , redete er lei-
nen Sohn alfo an: „ Siehe dich wohl vor, Mein Sohn Icarus , dals du fein alle-
„ mahl in der mittlereren Luft bleibeft. Denn komeft du zu tief, fo werden dei-
„ ne Flügel durch die Feuchtigkeit fchwer werden j und wenn du dich zu hoch
„ fchwingeft, fo wird fie die Sonne verfengen. Hute dich also wohl vor diefen
„ zwey Abwegen und folge mir nur immer nach." Hierauf macht er ihm die
vor ihn zubereiteten Flügel, wiewohl nicht ohne Furcht und Thränen , an, und
lehret ihn , wie er es damit machen foli, nach diefem kuflet er ihn zum lezten
mahle, fanget an zu fliegen, und weifet ihm den weg: nicht anders als ein Vogel,
der feine Jungen zum erften mahle aus dem Nefte führet. Er fpricht ihm ein
Herz ein , dafs er ihm folgen folle , und weil er mehr vor feines Sohnes , als fein
eignes Leben in Sorgen ift, fo flehet er beftandig auf ihn zurück, und unterweifec
ihn in der gesahrlichen Kunft zu fliegen. Wer fie nur in der Luft gewahr wurde,
hielte sie vor Gotter: die erfchrocknen Fischer hielten sich an ihre Angel-Ruthe,
die