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Pinder, Wilhelm
Die Pietà — Bibliothek der Kunstgeschichte, Band 29: Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.59320#0007
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Die Pieta ist eine Schöpfung des 14. Jahrhunderts,
in ihm hat sie ihr heroisches Zeitalter erlebt. Sie
gehört nicht zu den alten, großen Themen, die zur gan-
zen Gemeinde sprechen. Sie wollte neuen Menschen
dienen, die persönliche Versenkung, Einsamkeit des Ichs
mit Gott forderten, den Menschen im Zeitalter der
Mystik. Sie wollte nicht die architektonischen Haupt-
stellen der Kirche für sich, sondern abgelegene Neben-
punkte, Seitenaltäre, Kreuzgänge, Klausuren. Sie ist
reines „Andachtsbild“, gewonnen aus den „Abendge-
schehnissen“ der Passion, dem Einzelnen einsam für stille
Vesperstunden dargeboten — daher auch „Vesperbild“
genannt. Ihr Wesen ist sichtbar gewordenes lyrisches
Gefühl. Überall, wo der szenische Verlauf der Passion
ein lyrisches Verweilen gestattete, da haben die Men-
schen des beginnenden 14. Jahrhunderts ihre neue Mög-
lichkeit empfunden. Aus dem Abendmahl lösten sie die
Christus-Johannes-Gruppe heraus, verselbständigten das
Bruchstück einer Szene, den Kult des Heiligen Herzens
zu feiern. Den wehmütigen Gehalt mehrerer Passions-
szenen (Ecce Homo, Dornenkrönung, Geißelung) ver-
dichteten sie zur Figur des Schmerzensmannes. Die
„Passio Christi“ spiegelten sie um zur „Compassio
Mariae“, dachten das Gefühl der Menschenmutter bis
zur urweiblichen Stimmung des Mitleids mit sich selbst
zu Ende und schufen so die Pieta. Herauslösung der
Gefühlsgehalte aus der Logik der Handlung ist der
grundlegende Vorgang. Der Entschluß, solche isolierte
Gehalte sichtbar zu machen, ist wesentlich deutsche
Leistung des beginnenden 14. Jahrhunderts. Die erste
urkundliche Erwähnung einer Pieta betrifft das Jahr
1298 und die Kölner Karmeliterkirche.
Dem Bildwerke ging eine dichterische Vorgeschichte
voran. Der Gehalt mußte erst ersonnen werden, die
Evangelien wissen nichts von ihm. Der christliche
Osten schuf vom „Evangelium Nicodemi“ an Vorbe-

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