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Pinder, Wilhelm
Die Pietà — Bibliothek der Kunstgeschichte, Band 29: Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.59320#0009
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den Begriffen der beweglichen Plastik und jener für
festen Ort. Der ersteren gehört wohl die Idee des
kindhaft kleinen Leichnams an (Abb. 1). Maria träumt
sich den Toten wieder als ihr Schoßkind zurück; die
Vorstellung war den Mystikern (Bernardin von Siena)
bekannt. Auch der formengeschichtliche Vorgang war
wohl so: in diesen Typus, nur in kleinem Maßstabe
verwirklicht, spielt offenbar die uralte Fassung der
Sitzmadonna hinein. Die Erinnerung daran spürt man
überall, auch noch in Werken des 15. Jahrhunderts,
wie dem aus Unna in Münster (Abb. 7). Vielleicht
gehörte auch das schöne Radolfzeller Vesperbild in
Freiburg hierher. Der Maßstab ist so intim, wie der
Gedanke selbst. Wo aber die Hüttenplästik ihre Schul-
tern unterschob, ist er heroisch. Hinter dem riesen-
haften Coburger Vesperbilde spürt man die Monumen-
talität der Kathedralenkunst (Abb. 2). Die blockhafte
Schwere, der „Zeitstil“, kommt der zeitlosen Großartig-
keit der Idee zugute. Ich glaube, hier spüren wir am
nächsten noch den Atem der verlorenen Urschöpfung.
Ein nordischer Geist von namenlosem Ernst, ein „Wirf
dich hin“, zum einsamen Beter gesprochen. Die Grund-
form, die Diagonalität des Christuskörpers, ist das be-
redle Mittel, die Leidenschaft des Schmerzes, der den
Toten rüttelt und hebt, zu versinnlichen. Die Rippen
schroff gereiht, eine unerbittliche Unterstreichung des
Leidens; der Kopf bricht um, der Arm schießt herab.
Wahrscheinlich ist auch hier, wie bei der Christus-
Johannes-Gruppe, die weibliche Mystik der Boden.
Es mag kein Zufall sein, daß das nächste Hauptstück
des Typus, das Erfurter (Abb. 3), bei Ursulinerinnen
steht. Es ist später, gibt aber die Grundform des
Coburger Werkes in völliger Erhaltung wieder — auch
die des Einzelnen, das geböschte, hartgeschnitzte Drei-
eck, namentlich im Christuskopfe von überwältigender
Sprache. In Gmünd (Chor der Hl. Kreuzkirche) zeigt

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