sie um nichts häßlich oder verdorben, weil sie wahr ist und einem seelischen Zustand
entspricht. Was ist Stil anders als wahre, entsprechende, sichtbare Zeichen inneren
ungewöhnlichen Lebens der Auserwählten. Man kann nicht sagen, daß der gotische
plastische Stil in seiner Entwicklung von den aristokratisch schlanken, von edeln
Kleidern umgebenen Damen etwa des Straßburger Münsters bis zu den derb-barocken,
pastosen Madonnen-Bürgersfrauen eines Veit Stoß unschön wurde, denn wenn anders
er Stil war, war er schön; und Stil war er, denn er war der Ausdruck einer Zeit, in
welcher die Bürger die Bedeutung gewannen, welche die Burgen verloren. Sind nicht
die wie gemeißelt aussehenden Fratzen etwa des Jahreswechsels (S. 176) unmittelbar
so in Rethels zorniger Seele gedacht, wie sein Stift sie verhöhnt, die Plebs seit den
Sturmjahren, die guten Bürger seit der Aachener Misere? Die innere Wahrheit ist so
sehr eins mit der Schönheit, daß die Kunst, deren schöner Schein äußerlich soviel
trügt, aufhört Kunst zu sein, sobald sie nicht mehr innere Wahrheit ist. Der echte
Künstler kann nicht ohne den Schein, aber er kann auch nicht lügen; indem er die
Wirklichkeit in persönlich gemalten Trugbildern zeigt, spricht er eine höhere, er-
schütterndere, allgemeinere Wahrheit der Menschen aus als die grobe, sinnliche von
Ort und Augenblick.
Von der Zeit an, wo Rethel er selbst ist, gegen Ende der dreißiger Jahre, ist
sein zeichnerischer Stil im allgemeinen so bestimmt, daß danach ein geübtes Auge mit
ziemlicher Wahrscheinlichkeit die oft schwierige Datierung der Zeichnungen vornehmen
kann und sofort zum Beispiel die irrige Zuweisung der Mantelstudie Nr. 16 des Katalogs
der Handzeichnungen in der Berliner Nationalgalerie zu Maximilian 11. statt zu Karl im
Grabe bemerken wird.
Die Nacht 1853—1859
Rethels in Rom sind nicht wohlbestellt. Zwar fühlen sie sich sehr behaglich in
der Gesellschaft der Künstler, die ebensolche Zigeuner sind wie sie, aber das Klima, die
weiche Luft, der Scirocco, schlechte Wahl der Ärzte, alles ist der Krankheit des Mannes
nicht zuträglich. Im Frühjahr holt der Schwiegervater das wunderliche Paar ab, denn der
Künstler ist beinahe so hilflos geworden wie das Kind, das ihm eben geboren ist. Noch
immer weiß die Schrift der Witwe nichts Entsprechendes von der Krankheit, aber als ob
das Schicksal, das dem Meister so unhold war, selbst Wert auf Beschaffung einer ge-
naueren geschichtlichen Quelle für die Zukunft legte, schickt es den Rethelschen wieder
den Friedrich Pecht entgegen, diesmal in Venedig. Fast immer geistesabwesend, wild
phantasierend, stumpfsinnig brütend lebt Rethel; doch als ihm Pecht an einem stürmi-
schen Apriltag auf dem Markusplatz entgegentritt, erkennt er den Schriftsteller noch und
streckt ihm die Hand entgegen; aber der andre sieht, daß der Geist und die hohe
Leidenschaft Rethels für immer erloschen sind. Man läßt die junge Mutter mit dem Kinde
nicht bei dem irren Vater, er wird nach Düsseldorf in die Pflege seiner Mutter und
Schwester gebracht. Das ist 1853. Dort lebt der zum Kinde unnatürlich zurückgebildete
Mann noch sechs Jahre. Eine liebe Beschäftigung ist ihm, der das größte, ein Riesen-
bilderbuch deutscher Geschichte gemalt, in Bilderbüchern für Kinder zu blättern. Am
1. Dezember 1859 ist alles zu Ende.
Als die Nacht 1853 auf den Sechsunddreißigjährigen herabzusinken begann, war
das früher Abend oder vollendeter Tag? Hat man Grund zu klagen über das blinde,
törichte Geschick und zu berechnen, was er bei längerem Leben hätte leisten können?
War Alfred Rethel denn schon Rethel? Fünfunddreißigjährig, 1850 erst malte Menzel
LXX
entspricht. Was ist Stil anders als wahre, entsprechende, sichtbare Zeichen inneren
ungewöhnlichen Lebens der Auserwählten. Man kann nicht sagen, daß der gotische
plastische Stil in seiner Entwicklung von den aristokratisch schlanken, von edeln
Kleidern umgebenen Damen etwa des Straßburger Münsters bis zu den derb-barocken,
pastosen Madonnen-Bürgersfrauen eines Veit Stoß unschön wurde, denn wenn anders
er Stil war, war er schön; und Stil war er, denn er war der Ausdruck einer Zeit, in
welcher die Bürger die Bedeutung gewannen, welche die Burgen verloren. Sind nicht
die wie gemeißelt aussehenden Fratzen etwa des Jahreswechsels (S. 176) unmittelbar
so in Rethels zorniger Seele gedacht, wie sein Stift sie verhöhnt, die Plebs seit den
Sturmjahren, die guten Bürger seit der Aachener Misere? Die innere Wahrheit ist so
sehr eins mit der Schönheit, daß die Kunst, deren schöner Schein äußerlich soviel
trügt, aufhört Kunst zu sein, sobald sie nicht mehr innere Wahrheit ist. Der echte
Künstler kann nicht ohne den Schein, aber er kann auch nicht lügen; indem er die
Wirklichkeit in persönlich gemalten Trugbildern zeigt, spricht er eine höhere, er-
schütterndere, allgemeinere Wahrheit der Menschen aus als die grobe, sinnliche von
Ort und Augenblick.
Von der Zeit an, wo Rethel er selbst ist, gegen Ende der dreißiger Jahre, ist
sein zeichnerischer Stil im allgemeinen so bestimmt, daß danach ein geübtes Auge mit
ziemlicher Wahrscheinlichkeit die oft schwierige Datierung der Zeichnungen vornehmen
kann und sofort zum Beispiel die irrige Zuweisung der Mantelstudie Nr. 16 des Katalogs
der Handzeichnungen in der Berliner Nationalgalerie zu Maximilian 11. statt zu Karl im
Grabe bemerken wird.
Die Nacht 1853—1859
Rethels in Rom sind nicht wohlbestellt. Zwar fühlen sie sich sehr behaglich in
der Gesellschaft der Künstler, die ebensolche Zigeuner sind wie sie, aber das Klima, die
weiche Luft, der Scirocco, schlechte Wahl der Ärzte, alles ist der Krankheit des Mannes
nicht zuträglich. Im Frühjahr holt der Schwiegervater das wunderliche Paar ab, denn der
Künstler ist beinahe so hilflos geworden wie das Kind, das ihm eben geboren ist. Noch
immer weiß die Schrift der Witwe nichts Entsprechendes von der Krankheit, aber als ob
das Schicksal, das dem Meister so unhold war, selbst Wert auf Beschaffung einer ge-
naueren geschichtlichen Quelle für die Zukunft legte, schickt es den Rethelschen wieder
den Friedrich Pecht entgegen, diesmal in Venedig. Fast immer geistesabwesend, wild
phantasierend, stumpfsinnig brütend lebt Rethel; doch als ihm Pecht an einem stürmi-
schen Apriltag auf dem Markusplatz entgegentritt, erkennt er den Schriftsteller noch und
streckt ihm die Hand entgegen; aber der andre sieht, daß der Geist und die hohe
Leidenschaft Rethels für immer erloschen sind. Man läßt die junge Mutter mit dem Kinde
nicht bei dem irren Vater, er wird nach Düsseldorf in die Pflege seiner Mutter und
Schwester gebracht. Das ist 1853. Dort lebt der zum Kinde unnatürlich zurückgebildete
Mann noch sechs Jahre. Eine liebe Beschäftigung ist ihm, der das größte, ein Riesen-
bilderbuch deutscher Geschichte gemalt, in Bilderbüchern für Kinder zu blättern. Am
1. Dezember 1859 ist alles zu Ende.
Als die Nacht 1853 auf den Sechsunddreißigjährigen herabzusinken begann, war
das früher Abend oder vollendeter Tag? Hat man Grund zu klagen über das blinde,
törichte Geschick und zu berechnen, was er bei längerem Leben hätte leisten können?
War Alfred Rethel denn schon Rethel? Fünfunddreißigjährig, 1850 erst malte Menzel
LXX