Jede Kunstepoche macht den Wandel vom Line-
aren zum Plastischen und Malerischen durch. Daß
Nicolo (c. 1215—c. 1277), für Toskana der Begrün-
der des neuen plastischen Stiles im Mittelalter, an
Stelle plattgedrückter Linearität voluminöse Kör-
perkompaktheit, an Stelle einzeln nebeneinander
aufgereihter Figuren das überschneidende Neben-
und Hintereinander zusammengedrängter Massen
mit ihrer räumlichen Tiefe setzt, während sein Sohn
Giovanni (c. 1252 bis nach 1314) unmittelbar nach
ihm zum Neubegründer der malerischen Phase wird,
reißt eine prinzipielle Kluft zwischen Vater und
Sohn auf, deren Ursache der Zeitgeist, nicht aber
ein mehr oder minder feuriges Temperament
ist. Der Schöpfer des Simeon mit dem Laokoon-
pathos (Abb. 3) und der leidenschaftlichen Szenen
der Sieneser Kanzel hatte das Höchste an Leiden-
schaft gegeben, das die Form seiner Zeit, die plasti-
schere, gebundenere, fassen konnte, deren Grund-
lage immer möglichst klare, jede Gestalt gesondert
heraushebende Vertikalen bleiben, während bei
Giovanni alles in einem weiterfliegenden Schwung
zusammenfassende Kurven die Grenzen zwischen
Form und Form hinwegspülen und eine adäquate
Auslese psychischer Momente bedingen: nämlich
solche, die die Schranken zwischen Individuum und
Individuum aufheben, den Zusammenhang mit
einer Umgebung suggerieren, sei es, daß sich Blick
in Blick bohrt, sei es, daß der Blick an etwas zu
haften oder weit über alles hinwegzusehen scheint,
B.D.K.36
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aren zum Plastischen und Malerischen durch. Daß
Nicolo (c. 1215—c. 1277), für Toskana der Begrün-
der des neuen plastischen Stiles im Mittelalter, an
Stelle plattgedrückter Linearität voluminöse Kör-
perkompaktheit, an Stelle einzeln nebeneinander
aufgereihter Figuren das überschneidende Neben-
und Hintereinander zusammengedrängter Massen
mit ihrer räumlichen Tiefe setzt, während sein Sohn
Giovanni (c. 1252 bis nach 1314) unmittelbar nach
ihm zum Neubegründer der malerischen Phase wird,
reißt eine prinzipielle Kluft zwischen Vater und
Sohn auf, deren Ursache der Zeitgeist, nicht aber
ein mehr oder minder feuriges Temperament
ist. Der Schöpfer des Simeon mit dem Laokoon-
pathos (Abb. 3) und der leidenschaftlichen Szenen
der Sieneser Kanzel hatte das Höchste an Leiden-
schaft gegeben, das die Form seiner Zeit, die plasti-
schere, gebundenere, fassen konnte, deren Grund-
lage immer möglichst klare, jede Gestalt gesondert
heraushebende Vertikalen bleiben, während bei
Giovanni alles in einem weiterfliegenden Schwung
zusammenfassende Kurven die Grenzen zwischen
Form und Form hinwegspülen und eine adäquate
Auslese psychischer Momente bedingen: nämlich
solche, die die Schranken zwischen Individuum und
Individuum aufheben, den Zusammenhang mit
einer Umgebung suggerieren, sei es, daß sich Blick
in Blick bohrt, sei es, daß der Blick an etwas zu
haften oder weit über alles hinwegzusehen scheint,
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