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Einleitung
sionen absichtlich Verwirrung gestiftet habe, konnte unschwer widerlegt wer-
den. Schließlich enthalten einige Handschriften Datierungen aus der Zeit Karls
des Großen, andere sind schriftgeschichtlich eindeutig weit vor der Zeit Hink-
mars von Reims entstanden. Die Unrichtigkeit der Fälschungsthese steht heute
wie damals außer Zweifel.
Die Diskussion um Simon Steins Fälschungsthese - also nur ein Sturm im
Wasserglas? Oder - um die wenig taktvolle Formulierung Rudolf Buchners
aufzugreifen - die Ausgeburt einer „durch Kriegspsychose" bedingten „Polemik
gegen deutsche Forscher"7? Diese Einschätzung greift mit Sicherheit zu kurz.
Simon Steins Arbeiten zur Lex Salica begannen nämlich lange vor dem Zweiten
Weltkrieg. Stein profilierte sich damals als einer der schärfsten Kritiker der
deutschen Rechtsgeschichte, einer Wissenschaft, die im 19. Jahrhundert ein
Lehrgebäude von beeindruckender Geschlossenheit errichtet hatte und zu einer
der Leitdisziplinen an den deutschen Universitäten geworden war.8 Der deut-
schen Rechtsgeschichte lag der Gedanke zugrunde, dass (in den Worten von
Jacob Grimm) „das Recht wie die Sprache und Sitte volksmässig"9 ist, d. h. dass
jedes Volk vom Anfang der Geschichte an über eine eigene Rechtsordnung
verfügt und dass diese Rechtsordnung der Staatsbildung vorausgeht. Aufgabe
der Disziplin war die historische Erschließung der Grundprinzipien des deut-
schen Rechts - mit dem rechtspolitischen Ziel, diese Grundprinzipien in die
Gestaltung des modernen Staates nach der Gründung des Kaiserreichs einfließen
zu lassen. Bei der Kodifikation des Bürgerlichen Gesetzbuchs konnte die deut-
sche Rechtsgeschichte mit dieser Idee gegen die Hegemonie des römischen
Rechts nicht durchdringen. Trotzdem entfaltete die deutsche Rechtsgeschichte
um 1900 sowohl national wie auch international eine erstaunliche Strahlkraft.
Heinrich Brunner hinterließ in diesen Jahren mit dem Handbuch „Deutsche
Rechtsgeschichte" ein bis heute nicht überholtes Standardwerk.
Aus welchen Motiven sich Simon Stein zum Kritiker dieser Disziplin auf-
schwang, ist nicht mehr vollständig zu ergründen. Er war ein Außenseiter und
damit vielleicht für eine solche Rolle prädestiniert. Geboren am 23. Juli 1887 in
Odessa ging er zum Studium an die kaiserliche Universität St. Petersburg, wo er
mit Arbeiten zur Soziologie und zur frühen Stadtgeschichte Straßburgs her-
vortrat und von 1916 bis 1920 als assistierender Professor tätig war.10 Wegen der
Repressalien des kommunistischen Staates gegen die revolutionsfeindliche
Universität mussten viele Professoren das Land verlassen, unter ihnen auch
Simon Stein. 1922 treffen wir Simon Stein in Berlin an, wo er bis 1931 am Rus-
sischen Wissenschaftlichen Institut lehrte, einer von Exilanten betriebenen und
7 Buchner, Kleine Untersuchungen, S. 60. Holtzmann und Eckhardt verglichen Steins Spekula-
tionen mit den Fälschungsthesen des rassistischen Ideologen Wilhelm Kammeier, der in der
Zwischenkriegszeit behauptete, die gesamte germanische Überlieferung sei durch den Klerus
verfälscht worden. Vgl. Fuhrmann, Mittelalter, S. 244-251.
8 Vgl. Böckenförde, Forschung; Liebrecht, Brunners Wissenschaft.
9 Briefe der Brüder Grimm, S. 172, zitiert von Graceffa, La question franque, S. 74. Ergebnis dieses
Interesses ist Grimm, Rechtsalthertümer.
10 Die Informationen zum Lebensweg von Simon Stein entnehme ich: Archives Nationales,
20070296/504, Dossier de carriere de Simon Stein (1937-1947).
Einleitung
sionen absichtlich Verwirrung gestiftet habe, konnte unschwer widerlegt wer-
den. Schließlich enthalten einige Handschriften Datierungen aus der Zeit Karls
des Großen, andere sind schriftgeschichtlich eindeutig weit vor der Zeit Hink-
mars von Reims entstanden. Die Unrichtigkeit der Fälschungsthese steht heute
wie damals außer Zweifel.
Die Diskussion um Simon Steins Fälschungsthese - also nur ein Sturm im
Wasserglas? Oder - um die wenig taktvolle Formulierung Rudolf Buchners
aufzugreifen - die Ausgeburt einer „durch Kriegspsychose" bedingten „Polemik
gegen deutsche Forscher"7? Diese Einschätzung greift mit Sicherheit zu kurz.
Simon Steins Arbeiten zur Lex Salica begannen nämlich lange vor dem Zweiten
Weltkrieg. Stein profilierte sich damals als einer der schärfsten Kritiker der
deutschen Rechtsgeschichte, einer Wissenschaft, die im 19. Jahrhundert ein
Lehrgebäude von beeindruckender Geschlossenheit errichtet hatte und zu einer
der Leitdisziplinen an den deutschen Universitäten geworden war.8 Der deut-
schen Rechtsgeschichte lag der Gedanke zugrunde, dass (in den Worten von
Jacob Grimm) „das Recht wie die Sprache und Sitte volksmässig"9 ist, d. h. dass
jedes Volk vom Anfang der Geschichte an über eine eigene Rechtsordnung
verfügt und dass diese Rechtsordnung der Staatsbildung vorausgeht. Aufgabe
der Disziplin war die historische Erschließung der Grundprinzipien des deut-
schen Rechts - mit dem rechtspolitischen Ziel, diese Grundprinzipien in die
Gestaltung des modernen Staates nach der Gründung des Kaiserreichs einfließen
zu lassen. Bei der Kodifikation des Bürgerlichen Gesetzbuchs konnte die deut-
sche Rechtsgeschichte mit dieser Idee gegen die Hegemonie des römischen
Rechts nicht durchdringen. Trotzdem entfaltete die deutsche Rechtsgeschichte
um 1900 sowohl national wie auch international eine erstaunliche Strahlkraft.
Heinrich Brunner hinterließ in diesen Jahren mit dem Handbuch „Deutsche
Rechtsgeschichte" ein bis heute nicht überholtes Standardwerk.
Aus welchen Motiven sich Simon Stein zum Kritiker dieser Disziplin auf-
schwang, ist nicht mehr vollständig zu ergründen. Er war ein Außenseiter und
damit vielleicht für eine solche Rolle prädestiniert. Geboren am 23. Juli 1887 in
Odessa ging er zum Studium an die kaiserliche Universität St. Petersburg, wo er
mit Arbeiten zur Soziologie und zur frühen Stadtgeschichte Straßburgs her-
vortrat und von 1916 bis 1920 als assistierender Professor tätig war.10 Wegen der
Repressalien des kommunistischen Staates gegen die revolutionsfeindliche
Universität mussten viele Professoren das Land verlassen, unter ihnen auch
Simon Stein. 1922 treffen wir Simon Stein in Berlin an, wo er bis 1931 am Rus-
sischen Wissenschaftlichen Institut lehrte, einer von Exilanten betriebenen und
7 Buchner, Kleine Untersuchungen, S. 60. Holtzmann und Eckhardt verglichen Steins Spekula-
tionen mit den Fälschungsthesen des rassistischen Ideologen Wilhelm Kammeier, der in der
Zwischenkriegszeit behauptete, die gesamte germanische Überlieferung sei durch den Klerus
verfälscht worden. Vgl. Fuhrmann, Mittelalter, S. 244-251.
8 Vgl. Böckenförde, Forschung; Liebrecht, Brunners Wissenschaft.
9 Briefe der Brüder Grimm, S. 172, zitiert von Graceffa, La question franque, S. 74. Ergebnis dieses
Interesses ist Grimm, Rechtsalthertümer.
10 Die Informationen zum Lebensweg von Simon Stein entnehme ich: Archives Nationales,
20070296/504, Dossier de carriere de Simon Stein (1937-1947).