Der Einsatz eines Rechtsbuchs
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von der Weimarer Republik finanziell geförderten Universität." Während dieser
Jahre der ständigen finanziellen Unsicherheit intervenierte er erstmals mit einem
Artikel über „Lex und Capitula" im Feld der deutschen Rechtsgeschichte. Schon
damals vermischten sich scharfsinnige Beobachtungen mit haltlosen Spekula-
tionen. Angriffsziel seiner Polemik war der langjährige Weggefährte Heinrich
Brunners, Alfred Boretius. Stein griff dessen Behauptung an, das fränkische
Recht habe zwei fundamental unterschiedliche Rechtsquellen gekannt: die
volksrechtliche lex und die königsrechtlichen capitula. Aus dieser Differenz er-
klärte Boretius (und auch mit wenigen Abstrichen Brunner) die Entwicklung der
frühen deutschen Rechtsgeschichte. Stein bestritt dagegen die Existenz eines
Volksrechts: Auch die Lex Salica sei nichts anderes als ein vom König gesetztes
Recht gewesen.12 Die Konsequenzen sprach Stein nicht aus, sie waren aber für
seine Leser leicht zu erschließen: Gibt es kein Volksrecht, ist die ganze Disziplin
der deutschen Rechtsgeschichte gefährdet!
Wenige Jahre später nahm Stein den Altmeister Heinrich Brunner direkt ins
Visier. Spät in seiner Laufbahn hatte Brunner eine ingeniöse Lösung für ein
Problem gefunden, welches bereits Generationen von Gelehrten und Historikern
vor ihm beschäftigt hatte: Warum wurden im fränkischen Recht die Römer
systematisch niedriger eingestuft als die Franken, während in den historiogra-
phischen Quellen keine Diskriminierung der Römer im Frankenreich erkennbar
ist? Die Streitfrage interessiert an dieser Stelle nicht im Detail.13 Hier nur so viel:
Brunner führte die Zurückstellung der Römer auf die fehlende Beteiligung der
Verwandten an der Wergeldzahlung zurück, also auf ein juristisches Prinzip.
Diese Lösung wurde von seinen Kollegen mit Enthusiasmus aufgenommen, weil
sie einerseits die Rationalität und Wirklichkeitsnähe des fränkischen Rechts
demonstrierte, andererseits aber die Überlegenheit der Franken und die welt-
geschichtlichen Wirkung fränkischer Eroberung bestätigte. Stein legte im Jahr
1929 den Finger in die Wunde: Brunners Konstruktion ist logisch und elegant,
wird aber durch keine Quelle belegt und führt sogar in offensichtliche Wider-
sprüche. Stein plädierte stattdessen dafür, die Begriffe „Francus" und „Roma-
nus" als ständische Qualifizierungen zu deuten: als „Adliger/Krieger" und
„Bauer"14. Die Argumente waren schwach, im Ergebnis ist sein Standpunkt aber
auch heute noch diskutabel. Die Konsequenz liegt ebenfalls auf der Hand: Das
„Volksrecht" entpuppt sich nach Stein nicht als Recht eines Volkes, sondern als
Recht eines Standes!
11 Vgl. Volkmann, Emigration, S. 130-134; Mchitarjan, Schulwesen, S. 99-101.
12 Stein, Lex und Capitula, S. 297, übersetzte Lex Salica als „königliches Recht". Durch das Buch
von Kaufmann, Aequitatis iudicium, wurde der Gegensatz von Volksrecht und Amtsrecht end-
gültig verworfen. Grundlegend bereits Seeliger, Volksrecht.
13 Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 336. Vgl. Graceffa, La question franque; und siehe unten
S. 87-93.
14 Stein, Romanus, S. 15. Ähnlich unlängst Durliat, Recherches, S. 270; Halsall, Settlement, S. 28. Die
in diesem Aufsatz geäußerte Kritik Steins an Brunners These zur Verlagerung des Märzfeldes ist
heute anerkannt: Springer, Märzfeld.
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von der Weimarer Republik finanziell geförderten Universität." Während dieser
Jahre der ständigen finanziellen Unsicherheit intervenierte er erstmals mit einem
Artikel über „Lex und Capitula" im Feld der deutschen Rechtsgeschichte. Schon
damals vermischten sich scharfsinnige Beobachtungen mit haltlosen Spekula-
tionen. Angriffsziel seiner Polemik war der langjährige Weggefährte Heinrich
Brunners, Alfred Boretius. Stein griff dessen Behauptung an, das fränkische
Recht habe zwei fundamental unterschiedliche Rechtsquellen gekannt: die
volksrechtliche lex und die königsrechtlichen capitula. Aus dieser Differenz er-
klärte Boretius (und auch mit wenigen Abstrichen Brunner) die Entwicklung der
frühen deutschen Rechtsgeschichte. Stein bestritt dagegen die Existenz eines
Volksrechts: Auch die Lex Salica sei nichts anderes als ein vom König gesetztes
Recht gewesen.12 Die Konsequenzen sprach Stein nicht aus, sie waren aber für
seine Leser leicht zu erschließen: Gibt es kein Volksrecht, ist die ganze Disziplin
der deutschen Rechtsgeschichte gefährdet!
Wenige Jahre später nahm Stein den Altmeister Heinrich Brunner direkt ins
Visier. Spät in seiner Laufbahn hatte Brunner eine ingeniöse Lösung für ein
Problem gefunden, welches bereits Generationen von Gelehrten und Historikern
vor ihm beschäftigt hatte: Warum wurden im fränkischen Recht die Römer
systematisch niedriger eingestuft als die Franken, während in den historiogra-
phischen Quellen keine Diskriminierung der Römer im Frankenreich erkennbar
ist? Die Streitfrage interessiert an dieser Stelle nicht im Detail.13 Hier nur so viel:
Brunner führte die Zurückstellung der Römer auf die fehlende Beteiligung der
Verwandten an der Wergeldzahlung zurück, also auf ein juristisches Prinzip.
Diese Lösung wurde von seinen Kollegen mit Enthusiasmus aufgenommen, weil
sie einerseits die Rationalität und Wirklichkeitsnähe des fränkischen Rechts
demonstrierte, andererseits aber die Überlegenheit der Franken und die welt-
geschichtlichen Wirkung fränkischer Eroberung bestätigte. Stein legte im Jahr
1929 den Finger in die Wunde: Brunners Konstruktion ist logisch und elegant,
wird aber durch keine Quelle belegt und führt sogar in offensichtliche Wider-
sprüche. Stein plädierte stattdessen dafür, die Begriffe „Francus" und „Roma-
nus" als ständische Qualifizierungen zu deuten: als „Adliger/Krieger" und
„Bauer"14. Die Argumente waren schwach, im Ergebnis ist sein Standpunkt aber
auch heute noch diskutabel. Die Konsequenz liegt ebenfalls auf der Hand: Das
„Volksrecht" entpuppt sich nach Stein nicht als Recht eines Volkes, sondern als
Recht eines Standes!
11 Vgl. Volkmann, Emigration, S. 130-134; Mchitarjan, Schulwesen, S. 99-101.
12 Stein, Lex und Capitula, S. 297, übersetzte Lex Salica als „königliches Recht". Durch das Buch
von Kaufmann, Aequitatis iudicium, wurde der Gegensatz von Volksrecht und Amtsrecht end-
gültig verworfen. Grundlegend bereits Seeliger, Volksrecht.
13 Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 336. Vgl. Graceffa, La question franque; und siehe unten
S. 87-93.
14 Stein, Romanus, S. 15. Ähnlich unlängst Durliat, Recherches, S. 270; Halsall, Settlement, S. 28. Die
in diesem Aufsatz geäußerte Kritik Steins an Brunners These zur Verlagerung des Märzfeldes ist
heute anerkannt: Springer, Märzfeld.