9. Schluss: Für eine andere Rechtsgeschichte
Das Recht, das nicht mehr praktiziert und nur studiert wird,
das ist die Pforte der Gerechtigkeit.1
Die historische Forschung ist sich heute darin einig, dass die europäische
Rechtstradition ihren Ursprung im ,langen' 12. Jahrhundert hat. Am Anfang
dieses Jahrhunderts steht die Wiederentdeckung der Digesten und damit der
römischen Jurisprudenz, an seinem Ende die Institutionalisierung der Rechts-
schulen zu einer Universität in Bologna. Dass dadurch ein radikaler Bruch mit
dem früheren Mittelalter herbeigeführt wurde, gehört zu den Fixpunkten der
europäischen Geschichtsschreibung. Diese Auffassung geht bis zum bahnbre-
chenden Buch von Charles Homer Haskins über die Renaissance des 12. Jahr-
hunderts zurück. Haskins widmete darin der Erneuerung des Rechts ein langes
Kapitel.2 Ein weiterer Klassiker der Mittelalterforschung, das Buch „The King's
Two Bodies" von Ernst H. Kantorowicz, trug zur Verfestigung dieser Sichtweise
bei. Nach Kantorowicz wurde das Königtum des früheren Mittelalters durch
Salbung, Liturgie und Christus-Mimese legitimiert, während erst im 12. Jahr-
hundert das „law-centered kingship" zum Durchbruch gelangt sei.3
Einem breiteren Publikum ist diese Auffassung vom Wandel im 12. Jahr-
hundert durch den amerikanischen Juristen Harold Berman bekannt geworden,
der in seinem Buch von 1983 die Formulierung von der „Revolution des Rechts"4
prägte. Bermans These, die Revolution sei in erster Linie von der päpstlichen
Kirchenreform und vom Investiturstreit ausgelöst worden, ist zwar auf berech-
tigten Widerspruch gestoßen5. Doch kaum jemand zweifelt an den umstürzen-
den Entwicklungen, die zur Herausbildung des Juristenstandes, der Rechts-
wissenschaft und der juristischen Fakultäten geführt haben. Das frühe Mittel-
alter erscheint dagegen als eine Sackgasse der Rechtsgeschichte: Wenn im
12. Jahrhundert der „Urknall" der Rechtswissenschaften stattfand, musste zuvor
absolute Leere geherrscht haben. Der Rechtshistoriker Kenneth Pennington ur-
teilte: „Without jurists there cannot be any jurisprudence. Without jurisprudence
1 Benjamin, Schriften II, 2, S. 437.
2 Haskins, The Renaissance, S. 193-223.
3 Kantorowicz, The King's Two Bodies, sowie zum karolingischen Königtum ders., Landes regiae.
4 Berman, Law and Revolution. Vgl. auch Brundage, Medieval Origins.
5 Radding, Le origini; Schieffer, Rückfragen.
Das Recht, das nicht mehr praktiziert und nur studiert wird,
das ist die Pforte der Gerechtigkeit.1
Die historische Forschung ist sich heute darin einig, dass die europäische
Rechtstradition ihren Ursprung im ,langen' 12. Jahrhundert hat. Am Anfang
dieses Jahrhunderts steht die Wiederentdeckung der Digesten und damit der
römischen Jurisprudenz, an seinem Ende die Institutionalisierung der Rechts-
schulen zu einer Universität in Bologna. Dass dadurch ein radikaler Bruch mit
dem früheren Mittelalter herbeigeführt wurde, gehört zu den Fixpunkten der
europäischen Geschichtsschreibung. Diese Auffassung geht bis zum bahnbre-
chenden Buch von Charles Homer Haskins über die Renaissance des 12. Jahr-
hunderts zurück. Haskins widmete darin der Erneuerung des Rechts ein langes
Kapitel.2 Ein weiterer Klassiker der Mittelalterforschung, das Buch „The King's
Two Bodies" von Ernst H. Kantorowicz, trug zur Verfestigung dieser Sichtweise
bei. Nach Kantorowicz wurde das Königtum des früheren Mittelalters durch
Salbung, Liturgie und Christus-Mimese legitimiert, während erst im 12. Jahr-
hundert das „law-centered kingship" zum Durchbruch gelangt sei.3
Einem breiteren Publikum ist diese Auffassung vom Wandel im 12. Jahr-
hundert durch den amerikanischen Juristen Harold Berman bekannt geworden,
der in seinem Buch von 1983 die Formulierung von der „Revolution des Rechts"4
prägte. Bermans These, die Revolution sei in erster Linie von der päpstlichen
Kirchenreform und vom Investiturstreit ausgelöst worden, ist zwar auf berech-
tigten Widerspruch gestoßen5. Doch kaum jemand zweifelt an den umstürzen-
den Entwicklungen, die zur Herausbildung des Juristenstandes, der Rechts-
wissenschaft und der juristischen Fakultäten geführt haben. Das frühe Mittel-
alter erscheint dagegen als eine Sackgasse der Rechtsgeschichte: Wenn im
12. Jahrhundert der „Urknall" der Rechtswissenschaften stattfand, musste zuvor
absolute Leere geherrscht haben. Der Rechtshistoriker Kenneth Pennington ur-
teilte: „Without jurists there cannot be any jurisprudence. Without jurisprudence
1 Benjamin, Schriften II, 2, S. 437.
2 Haskins, The Renaissance, S. 193-223.
3 Kantorowicz, The King's Two Bodies, sowie zum karolingischen Königtum ders., Landes regiae.
4 Berman, Law and Revolution. Vgl. auch Brundage, Medieval Origins.
5 Radding, Le origini; Schieffer, Rückfragen.