Der Reichtum der Quellen
101
Was aber bedeutete der Frankenname im 6. Jahrhundert? Das anti-römische
Modell der Lex Salica entstand sehr wahrscheinlich vor dem Sieg Chlodwigs über
den letzten römischen Befehlshaber Syagrius in Soissons (486/7) und vor dem
anti-gotischen Bündnis mit den Römern im Norden Galliens. Konnte dieses
Modell nach der Gründung des Großreichs und nach den Eroberungen des
frühen 6. Jahrhunderts überhaupt noch als Entwurf von Gemeinschaft auf Re-
sonanz stoßen? Wie das folgende Kapitel zeigen soll, ist die Konkurrenz ver-
schiedener „visions of community"10 im 6. Jahrhundert erheblich komplexer,
wenn man nicht nur die Entwürfe Gregors und Venantius' gegenüberstellt,
sondern auch die divergierenden Positionierungen der merowingischen Könige
zum Modell der Lex Salica berücksichtigt. Im ersten Abschnitt werde ich die
Vielfalt der Quellen vorstellen, die dafür zur Verfügung stehen. Im zweiten Teil
des Kapitels sollen die Fortschreibungen der Lex Salica von Chlodwig bis Chlo-
thar II. im Detail vorgestellt werden. Der Umgang mit dem fränkischen
Rechtsbuch im 6. und frühen 7. Jahrhundert kann uns nicht nur eine andere
Perspektive auf die politische Geschichte dieser Zeit und auf die Einschätzung
der zentralen Herrschergestalten geben, sie eröffnet auch den Blick auf eine
Gesellschaft, die viel mehr durch Recht geprägt war, als uns das Narrativ Gre-
gors von Tours glauben lassen will.
Der Reichtum der Quellen
Bei der Analyse der merowingischen Überarbeitungen und Zusätze zur Lex
Salica bewegen wir uns auf unsicherem Boden. Die Texte sind nicht datiert, oft
anonym überliefert und meist Jahrhunderte später in Handschriften bezeugt.
Daher ist es sinnvoll, den Überblick über die Rechtsquellen dieser Zeit mit den
Edikten der Merowinger zu beginnen. Hierzu hat die Forschung in jüngster Zeit
deutliche Fortschritte gemacht und weitgehend sichere Ergebnisse erzielt.
Zu den merowingischen Edikten zählen sieben Texte aus der Zeit der
Chlodwigsöhne bis zu Chlothar II. (584-629). Dass es sich bei dieser kleinen
Anzahl nur um einen Überrest aus einer größeren Menge an Herrschererlassen
handelt, hat Ingrid Woll in ihrer Untersuchung gezeigt.11 Die erhaltenen Texte
sind durch eine offensichtliche Diskrepanz gekennzeichnet, die für das 6. Jahr-
hundert charakteristisch ist. Während vier Texte allein in kirchenrechtlichen
Handschriften überliefert sind und keine Berührungspunkte mit dem fränki-
schen Recht aufweisen, sind die anderen drei Erlasse im Zusammenhang mit der
Lex Salica überliefert und inhaltlich eng mit dem Rechtsbuch verbunden.12 Unser
Interesse gilt vorwiegend diesen Texten in der Tradition des fränkischen Rechts:
10 Der Begriff geht zurück auf Walter Pohl: Gantner/Pohl/Payne (Hg.), Visions of Community.
11 Woll, Untersuchungen, S. 184-246.
12 Diesen Unterschied betonte bereits Petrau-Gay, Laghsaga. Kroeschell, Recht und Gericht, zieht
aus diesem Grund die Existenz einer Gattung der „Kapitularien" für die Merowingerzeit in
Zweifel.
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Was aber bedeutete der Frankenname im 6. Jahrhundert? Das anti-römische
Modell der Lex Salica entstand sehr wahrscheinlich vor dem Sieg Chlodwigs über
den letzten römischen Befehlshaber Syagrius in Soissons (486/7) und vor dem
anti-gotischen Bündnis mit den Römern im Norden Galliens. Konnte dieses
Modell nach der Gründung des Großreichs und nach den Eroberungen des
frühen 6. Jahrhunderts überhaupt noch als Entwurf von Gemeinschaft auf Re-
sonanz stoßen? Wie das folgende Kapitel zeigen soll, ist die Konkurrenz ver-
schiedener „visions of community"10 im 6. Jahrhundert erheblich komplexer,
wenn man nicht nur die Entwürfe Gregors und Venantius' gegenüberstellt,
sondern auch die divergierenden Positionierungen der merowingischen Könige
zum Modell der Lex Salica berücksichtigt. Im ersten Abschnitt werde ich die
Vielfalt der Quellen vorstellen, die dafür zur Verfügung stehen. Im zweiten Teil
des Kapitels sollen die Fortschreibungen der Lex Salica von Chlodwig bis Chlo-
thar II. im Detail vorgestellt werden. Der Umgang mit dem fränkischen
Rechtsbuch im 6. und frühen 7. Jahrhundert kann uns nicht nur eine andere
Perspektive auf die politische Geschichte dieser Zeit und auf die Einschätzung
der zentralen Herrschergestalten geben, sie eröffnet auch den Blick auf eine
Gesellschaft, die viel mehr durch Recht geprägt war, als uns das Narrativ Gre-
gors von Tours glauben lassen will.
Der Reichtum der Quellen
Bei der Analyse der merowingischen Überarbeitungen und Zusätze zur Lex
Salica bewegen wir uns auf unsicherem Boden. Die Texte sind nicht datiert, oft
anonym überliefert und meist Jahrhunderte später in Handschriften bezeugt.
Daher ist es sinnvoll, den Überblick über die Rechtsquellen dieser Zeit mit den
Edikten der Merowinger zu beginnen. Hierzu hat die Forschung in jüngster Zeit
deutliche Fortschritte gemacht und weitgehend sichere Ergebnisse erzielt.
Zu den merowingischen Edikten zählen sieben Texte aus der Zeit der
Chlodwigsöhne bis zu Chlothar II. (584-629). Dass es sich bei dieser kleinen
Anzahl nur um einen Überrest aus einer größeren Menge an Herrschererlassen
handelt, hat Ingrid Woll in ihrer Untersuchung gezeigt.11 Die erhaltenen Texte
sind durch eine offensichtliche Diskrepanz gekennzeichnet, die für das 6. Jahr-
hundert charakteristisch ist. Während vier Texte allein in kirchenrechtlichen
Handschriften überliefert sind und keine Berührungspunkte mit dem fränki-
schen Recht aufweisen, sind die anderen drei Erlasse im Zusammenhang mit der
Lex Salica überliefert und inhaltlich eng mit dem Rechtsbuch verbunden.12 Unser
Interesse gilt vorwiegend diesen Texten in der Tradition des fränkischen Rechts:
10 Der Begriff geht zurück auf Walter Pohl: Gantner/Pohl/Payne (Hg.), Visions of Community.
11 Woll, Untersuchungen, S. 184-246.
12 Diesen Unterschied betonte bereits Petrau-Gay, Laghsaga. Kroeschell, Recht und Gericht, zieht
aus diesem Grund die Existenz einer Gattung der „Kapitularien" für die Merowingerzeit in
Zweifel.